Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Basis , die es uns überhaupt erst ermöglicht zu entschleunigen. Hier setzen meine Analysen an: Ich gehe schlicht davon aus, dass unsere Psyche durch äußere Einflüsse heute nicht mehr in ausreichendem Maß ihrer Steuerungsfunktion für den menschlichen Alltag gerecht werden kann. Wir sind alle in Gefahr, nicht mehr Herr dieser Einflüsse zu sein, weil wir uns einem dauerhaften Katastrophenalarm ausgesetzt sehen.
Die Rückkehr zur inneren Ruhe über Ratschläge in Büchern und TV-Sendungen kann nicht funktionieren, und zwar aus einem bestimmten Grund. Die Frage der inneren Ruhe und wie man sie erlangt, war und ist immer ein Thema für Menschen, die gewohnt sind, zu reflektieren, sich selbst zu beobachten und Rückschlüsse daraus zu ziehen. Meine Analyse aber zeigt, dass dieser Prozess bei vielen von uns
heute unterbrochen ist und der anhaltenden Rastlosigkeit geopfert wird. Unsere Psyche ist nicht mehr in der Lage, in Ruhe zu reflektieren.
Wege zur inneren Ruhe zu finden setzt also voraus, psychisch dafür überhaupt gerüstet zu sein, und das ist heute vielfach nicht mehr der Fall. Der Katastrophenalarm, dem unsere Psyche dauerhaft ausgesetzt ist, lässt eine echte Sinnsuche in unserem Leben nur noch sehr eingeschränkt zu. An diesem Punkt setze ich mit meiner Beschreibung an.
Die Depression nimmt zu – Alltag eines Allgemeinmediziners
Einen guten Eindruck, wie die psychische Lage in der Republik ist, bekommt man, wenn man sich mit Allgemeinmedizinern unterhält. In vielen Praxen hat sich der Anteil der Patienten, bei denen jede körperliche Untersuchung keine zufriedenstellende Diagnose für die beschriebenen Symptome zulässt, stark erhöht. Vermutungen in Richtung Depressionen, Burn-out, Erschöpfung werden mittlerweile sehr viel schneller angestellt, da sich in immer mehr Fällen herausgestellt hat, dass Probleme im psychischen Bereich vorliegen.
Ich kenne einen Allgemeinmediziner, der mir seit Langem diese Phänomene in seinem Praxisalltag beschreibt. Zu ihm kommen Patienten, die körperlich in einem so schlechten Zustand sind, dass man zunächst von schlimmsten Erkrankungen ausgeht und eine niederschmetternde körperliche Diagnose befürchtet. Immer häufiger stellt sich bei der Untersuchung dann heraus, dass sich nichts Schwerwiegendes
finden lässt. Das Blutbild ist o.k., das EKG zeigt keine Auffälligkeiten, auch bildgebende Verfahren bringen kein dramatisches Ergebnis. Er erzählt:
» Ich verbringe mittlerweile viel Zeit mit Patientengesprächen, in denen ich nach der privaten und beruflichen Situation der Leute frage. Sehr oft kommen dabei zögerlich nach und nach die Probleme der Menschen auf den Tisch. Berufliche Belastungen bis an die Schmerzgrenze, damit einhergehend wenig Zeit für Familie, Freunde, Hobbys. Negative Erfahrungen im Job werden häufig genannt als Auslöser für Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten treten bei eigentlich einfachen Tätigkeiten auf bis hin zur Angst davor, bestimmte Dinge überhaupt noch zu tun.
Auffällig ist, dass der Blick auf die Psyche, der Gedanke daran, dass sie aus dem emotionalen Gleichgewicht sein könnte, bei fast allen Patienten erst an zweiter Stelle steht. Fast jeder geht fest davon aus, dass ich handfeste körperliche Ursachen für die Beschwerden finden werde, und ist genauso überzeugt davon, dass ein paar Medikamente reichen werden, um das Problem zu beheben.
Doch so lange es manchmal auch dauert, bis ein Patient sich auf den Gedanken einlässt, seine seelische Konstitution in die Diagnose mit einzubeziehen, so erleichtert sind doch die meisten Menschen, wenn man ihnen die Gelegenheit gibt, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Viele ahnen so etwas, wollen es aber nicht wahrhaben, weil unsere Gesellschaft mit Erkrankungen oder Störungen im psychischen Bereich immer noch sehr ablehnend umgeht. Chefs und Mitarbeiter vermuten Faulheit, wenn ein Angestellter sagt, seine nachlassende Leistung habe psychische Ursachen; Familie und Freunde
wissen nicht, wie sie mit einer solchen Feststellung umgehen sollen.
Dabei müssen wir uns dringend stärker damit beschäftigen, wo die Ursachen für diesen immensen Anstieg an Diagnosen wie Depression, Burn-out etc. liegen. Das sind eben nicht immer nur individuelle Ursachen, dagegen spricht die Häufung, die wir in den letzten Jahren feststellen.
Klar ist auch, dass eine Behandlung mit Medikamenten immer nur begleitend geschehen kann. Sie kann nie Gespräche und Eigenreflexion
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