Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
können und Kindern wieder die Möglichkeit einer altersgemäßen Entwicklung ihrer Psyche zu ermöglichen.
Ziel dieses Buches im Speziellen und meiner Arbeit im Allgemeinen ist also niemals irgendeine Form von Schuldzuweisung oder Anklage, sondern Aufklärung. Aufklärung über gesellschaftliche Zusammenhänge, die sich auf die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern auswirken und dafür sorgen, dass Kinder und Jugendliche zunehmend keine Chance haben, sich in einem entscheidenden Bereich ihrer Psyche zu entwickeln. Sie stagnieren in einem immer früheren Alter emotional und sozial, selbst wenn sie sich in anderer Hinsicht durchaus altersgemäß verhalten. Aus dieser Stagnation erklären sich dann die Auffälligkeiten, denen man heute überall begegnet und für die in der Regel eine fehlende oder falsche Erziehung im Elternhaus als Grund angeführt wird.
Die Auffälligkeiten, um die es dabei geht, können beispielsweise eine zunehmend fehlende Lern- und Leistungsbereitschaft sein, genauso wie Schwierigkeiten im sozialen Miteinander, fehlende Fähigkeit, in Konflikten eigene Anteile zu sehen, oder Wahrnehmungsprobleme. Schließlich spielt auch die Suchtproblematik eine Rolle, gerade im Bereich neuartiger Phänomene wie Online-Sucht. Beim Übergang von der Schule in den Beruf werden die Probleme besonders deutlich. So enthielt auch der Bundesbildungsbericht 2010 besorgniserregend hohe Zahlen im Bereich der nicht ausbildungsreifen Jugendlichen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Betriebe, die nicht mehr ausbilden oder dies zumindest überlegen, weil sie seit Jahren keine geeigneten Bewerber mehr für ihre freien Stellen finden. Die Probleme der Jugendlichen zeigen sich dabei auf zwei Ebenen. Es fehlt sowohl an Fähigkeiten in den ganz normalen Kulturtechniken wie Lesen und Rechnen als auch an Sekundärtugenden wie Arbeitshaltung, Pünktlichkeit, Höflichkeit und Umgang mit anderen Menschen. Abläufe werden nicht erkannt, sodass viele Arbeiten gar nicht geleistet werden können, es fehlt an Empathie und dem Blick für die Bedürfnisse der Kollegen, sodass eine gedeihliche Zusammenarbeit kaum möglich ist.
All diese Dinge führen zu Unruhe und immer höherer Belastung für Eltern, Großeltern, Lehrer, Erzieherinnen, also für jeden, der in irgendeinem Zusammenhang erzieherisch mit Kindern umgeht. Sie sehen sich stetigen Vorwürfen von Seiten der Gesellschaft ausgesetzt, viele »Experten« sagen ihre Meinung, bis hin zur totalen Boulevardisierung des Themas in Form von TV-Formaten wie der »Super-Nanny«.
Umso wichtiger ist die Feststellung, die auch als Folie für die Analyse in diesem Buch dienen kann: Die überwiegende
Zahl dieser Kinder wirkt wie unerzogen, ist aber im Großen und Ganzen eher gut erzogen. Sie wirken wie unwillig, sind aber in Wirklichkeit überfordert.
Den Hintergrund dafür bilden also weder fehlende Erziehung noch individuelle neurotische Störungsbilder, sondern Entwicklungsstörungen im Hinblick auf die Psyche des Kindes.
Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Kinder mit einer fertig entwickelten Psyche geboren werden. Wenn das der Fall wäre, könnten partnerschaftliche Beziehungsmodelle zwischen Erwachsenen und Kindern, wie sie heute schon in ganz frühen Jahren die Regel sind, tatsächlich Erfolg haben und das Kind gut begleiten. Es hat aber seinen Grund, warum ein partnerschaftlicher Erziehungsstil erst bei Jugendlichen im pubertierenden Alter nach und nach angebracht ist. Jüngere Kinder werden davon restlos überfordert, ihre Psyche bildet sich maßgeblich in Abhängigkeit vom Verhalten der sie umgebenden Erwachsenen, also insbesondere der Eltern.
Dieses erwachsene Verhalten ist eigentlich in uns angelegt, es liegt uns im Blut. Die Rede ist von Intuition. Einer Intuition, die Eltern ganz selbstverständlich mit ihren kleinen Kindern umgehen lässt, ohne sich Gedanken über Erziehungsstile und pädagogische Modelle zu machen.
Denken Sie an das Beispiel einer Mutter, die gerade eben ein Kind geboren hat. Der Säugling ist nicht in der Lage, sein Hungergefühl auch nur einen kurzen Moment zu unterdrücken und auszuhalten (was einem erwachsenen Menschen durchaus über einen längeren Zeitraum möglich ist). Sobald sich der Hunger meldet, meldet sich auch der Säugling. Er schreit. Das Verhalten der Mutter ist in diesem Moment
keine Frage des Nachdenkens. Ihre Intuition weist ihr den Weg und führt dazu, dass sie sich sofort liebevoll dem Kind zuwendet und es sättigt.
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