Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
nur noch eine Richtung. Diese Richtung heißt Freiheit.
Aufklärung, so hatte Kant verkündet, sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Und selbst verschuldet sei diese Unmündigkeit eben deshalb,
weil die Menschen nicht den Mut hätten, sich ihres Verstandes zu bedienen. Wer sich also im aufklärerischen Sinne seines Verstandes bediente und den Ausgang aus der Unmündigkeit fand, hatte damit auch den Weg zur Freiheit gefunden. Vor dem Hintergrund der Gesellschaftsstrukturen im 18. Jahrhundert ein enormer geistiger Fortschritt, von dem wir bis heute zehren.
Im 21. Jahrhundert wähnen wir uns in einem Maß von Freiheit angekommen, das unermesslich zu sein scheint. Wir können alles, wir dürfen alles, gemäß dem postmodernen Motto »anything goes« scheinen wir bei all unserem Tun keine Schranken und Verbote mehr zu kennen, sondern frönen der perfekten Selbstverwirklichung.
Die Frage, die wir uns lange Zeit kaum gestellt haben, lautet: Brauchen wir das auch alles, was wir können und dürfen? Und könnte es sein, dass wir Probleme haben, mit all der Freiheit überhaupt noch klarzukommen?
Darin steckt ein gefährlicher Gedanke. Nämlich der, dass es ein bestimmtes Maß an Unfreiheit geben könnte, das den Menschen glücklicher macht. Das klingt, als wenn man die Zeit zurückdrehen wollte. Und doch schwirrt dieser Gedanke in den letzten Jahren vermehrt durch die Diskussion.
So interpretiert Georg Diez etwa im SPIEGEL das erfolgreiche Buch des Philosophen Byung-Chul Han mit dem bezeichnenden Titel »Müdigkeitsgesellschaft« unter diesen Vorzeichen:
»›Die Depression ist die Erkrankung einer Gesellschaft, die unter dem Übermaß an Positivität leidet‹, schreibt er. Mit Positivität meint Han ›Projekt, Initiative, Motivation‹, eine Welt, in der die Menschen ›Unternehmer ihrer selbst‹ sind, was früher
vielleicht Freiheit oder Selbstverwirklichung hieß. Die Worte, die für all das stehen, was nach Han krank macht: ›Yes, we can.‹« 33
Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass wir uns in der heutigen Ego-Gesellschaft als genau das verstehen: »Unternehmer unser selbst«. Und niemand wird darin grundsätzlich etwas Negatives sehen. Das Prinzip funktioniert jedoch nur so lange, wie wir den Druck, der durch dieses Unternehmertum in eigener Sache entsteht, ignorieren bzw. ihn als positiv empfinden.
Der Freiheitsbegriff, dem wir bisher anhängen, kennt die Kehrseite der Medaille nicht bzw. versucht, sie konsequent zu ignorieren. Es ist faktisch unmöglich zu sagen: Ich will etwas weniger Freiheit. Denn die Begriffe, die wir damit verbinden, sind durchweg negativ besetzt: Abhängigkeit, Unterdrückung etc. Und doch: Vielleicht müssen wir versuchen zu verstehen, dass ein wenig »Freiheit von der Freiheit« unser Leben in ruhigere Bahnen lenken könnte.
In diesem Sinne würde »Freiheit von der Freiheit« sogar ein Plus an absoluter Freiheit bedeuten, da wir durch ein Weniger an äußerer Freiheit ein Mehr an innerer Freiheit gewinnen könnten. Für die Rückkehr zu intuitiven und damit freien Verhaltensweisen ist es gut, einen äußeren Rahmen zu haben, der Sicherheit und Stabilität gewährleistet und mir garantiert, dass ich mich auf diesen verlassen kann. Dieser Rahmen schränkt mich nicht ein, und er ist gegebenenfalls sogar erweiterbar, wenn ich spüre, dass es für mich gut ist.
Man könnte es auch so formulieren: Frei sind wir dann, wenn wir ganz bei uns selbst sind, aus uns selbst heraus agieren und unsere äußeren Freiheiten nutzen können. Solange wir außer uns sind, im Hamsterrad um uns selbst kreisen, sind wir dagegen unfrei. Etwas provokativer ausgedrückt : Wir halten uns zwar für die freieste Gesellschaft, die es je gab, sind aber zumindest in Teilen die unfreieste, die es geben kann, weil wir nicht mehr über uns selbst bestimmen.
Entscheidend ist: Freizeit ist nicht gleich Freiheit. Das Gefühl, Freizeit ständig »gestalten« zu müssen, ist heute dominierend. Freizeit kann nicht einfach da sein und spontan nach Lust und Laune genutzt werden, sondern sie muss geplant und produktiv genutzt werden. Der Drang, das zu tun, entsteht aus dem Katastrophenmodus in unserer Psyche. Wenn der Hebel für dieses Programm erst mal unbewusst umgelegt worden ist, tun wir alles, um im Hamsterrad zu bleiben. Ein »Runterkommen« ist da gar nicht vorgesehen, egal, ob Arbeit oder Freizeit, es muss ständige Aktivität herrschen.
Es stellt sich die Frage: Warum ist
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