Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
das Gefühl, sich gar nicht gegen ein solches Angebot entscheiden zu können, ohne dem eigenen Körper und Geist damit etwas Schlechtes anzutun.
Doch auch, wenn ich diese Gefahr erkannt und mir bewusst gemacht habe, wie viele Dinge wir nur aus Angst tun, in ein Loch zu fallen, wenn wir eine echte Pause machen würden, sind wir damit nicht automatisch aus dem Schneider.
Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen die Pause, die Muße oder auch das »dolce far niente« noch zu den Selbstverständlichkeiten gehörten und die Psyche im Gleichgewicht hielten, müssen wir uns heute diese Punkte viel bewusster suchen. Das kann zu Beginn durchaus ein schmerzhafter Prozess sein. Wer seit Langem im Hamsterrad läuft und nun zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bewusst versucht, einfach nur einen längeren Spaziergang zu machen, wird merken, wie ihn sehr bald Unruhe erfasst und der Drang, sich irgendeine Ablenkung zu verschaffen, fast übermächtig wird.
Das bedeutet: Gerade die Aktionen, von denen man sich eine Rückkehr zur Ruhe erhofft, werden am Anfang vielleicht die größte Unruhe auslösen. Diese Unruhe jedoch löst sich sehr schnell auf und wird abgelöst durch etwas, was in vielen Fällen wirklich schon in Vergessenheit geraten ist: durch echte Entspannung, das Gefühl, sich selbst zu genügen und nicht mehr diese unheimliche und unsichtbare Kraft zu spüren, die einen immer weiter und weiter drängt und einem das Gefühl verleiht, überhaupt nicht mehr innehalten zu können.
Die Kontrapunkte also, die wieder Distanz schaffen und uns in die Ruhe und Gelassenheit, also auch in die Intuition zurückbringen, diese Kontrapunkte müssen wir heute gezielt setzen. Das bedeutet aber auch, dass sie jeder für sich selbst suchen muss, weil nur jeder für sich selbst spürt, was ihm guttut und was nicht.
Es spricht nichts dagegen, die Ruhe in der Lektüre eines Buches zu finden. Wenn aber die Lektüre des Buches nur dazu dient, aufkommende Leere zu füllen, ist sie unter Umständen auch nur Ausdruck des Hamsterrades. Lektüre, weil
ich mich auf das Buch freue und mich voll und ganz auf diese Phantasiewelt einlassen kann, ist wunderbar. Lektüre, die nur dazu dient, freie Zeit »irgendwie« zu nutzen, ist nicht so wunderbar, sie wird auch nicht erfüllend sein können, weil die Probleme auf Grund des weiterhin ständig nach außen gerichteten Bewusstseins sich immer wieder in die Lektüre einzumischen verstehen.
Die Suche nach einem Sinn
Notker Wolf erzählt in einem seiner zahlreichen Bücher, wie er beschloss, Mönch zu werden, als er mit 14 Jahren die Geschichte eines Missionars las, der zu Lebzeiten die Bewohner einer Südseeinsel nicht missionieren konnte, nach seinem Tode jedoch mit seiner Botschaft fortwirkte und diese Bewohner zu Christen machte. Notker Wolf schreibt:
»Der Same war also aufgegangen, ganz ohne das Zutun dessen, der gesät hatte! Diese Vorstellung berührte mich zutiefst. Ich legte das Heft zur Seite und wusste: Jesus braucht dich! Dein Leben hat einen Sinn! Eine Aufgabe erwartet dich! Du wirst Missionar! Auf Erfolg brauchst du nicht zu schauen, den gibt Gott zu seiner Zeit. Eine Einsicht, die mich zeitlebens vom
Erfolgszwang befreit hat.« 32
Einen Weg so konsequent zu beschreiten, wie es Notker Wolf getan hat, ist sicher nicht jedermanns Sache. Aber eines lässt sich aus diesem Zitat doch ableiten. Sinn hat wenig bis gar nichts mit Erfolg zu tun. Auch, wenn ein sinnvolles Leben sicher auch als ein erfolgreiches gelten darf.
Der Erfolgszwang, von dem der junge Notker Wolf sich befreit sieht, weist gewisse Parallelen zum Hamsterrad auf. Wer Erfolgszwang verspürt, begibt sich in genau so eine Tretmühle, wie das Hamsterrad sie darstellt. Die Entscheidung, als Mönch und Missionar von diesem Zwang befreit zu sein, gibt dem Leben Notkers bereits früh einen besonderen Sinn; zu einem Zeitpunkt, an dem Hamsterrad und Erfolgszwang noch keine dominierende Rolle spielen konnten.
Die Gefahr ist, dass im Hamsterrad auch die Suche nach Sinn dazu dient, die Psyche im Hamsterrad zu stabilisieren und weiter auf Hochbetrieb zu halten. Gesucht wird dann unbewusst letztlich eben nicht nach Sinn, sondern nach einer Möglichkeit der Sinnsuche selbst, die den Stresslevel hoch hält.
Wir sind die unfreieste Menschengeneration aller Zeiten, weil wir uns selbst nicht mehr aushalten
Spätestens seit der Aufklärung kennt das Denken der Menschheit, zumindest in der westlichen Hemisphäre,
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