Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Situation, wie ich sie hier für unser Alltagsleben als dauerhaft beschrieben habe. Die nächste Katastrophe steht jederzeit vor der Tür, dauerhafte Aufmerksamkeit ist gefordert, die Psyche des Arztes ist über einen langen Zeitraum ständig hochgedreht und hat kaum Möglichkeiten, zur Ruhe zu kommen.
    Es mag Ärzte geben, die dieser Belastung irgendwann nicht mehr gewachsen sind, aber in der Regel sind die Notdienste für einen Arzt wenig mehr als normaler Bestandteil seiner beruflichen Tätigkeit. Er steckt sie weg und ist ohne größere Beeinträchtigungen in der Lage, übers Jahr verteilt viele dieser Dienste zu übernehmen.
    Der Arzt verwendet zur Bewältigung dieses Stresses eine unbewusste Strategie, die seiner Psyche hilft, keinen Schaden zu nehmen. Er distanziert die Belastung, lässt sie nicht an sich herankommen, fühlt sich trotz der notwendigen Hinwendung zum Patienten in jeder Sekunde abgegrenzt vom konkreten Fall. Es gibt für sein Handeln einen klar abgesteckten Rahmen, der für die notwendige Struktur sorgt. Zum einen gibt es eine zeitliche Begrenzung des Stresses und der Katastrophensituation. Zum anderen ist und bleibt der Patient bei aller menschlichen Nähe immer auch ein »Fall«.
    Das mag im ersten Moment etwas befremdlich klingen, erwartet man doch gerade von einem Mediziner immer auch gewisse seelsorgerische Qualitäten, also eben gerade die Fähigkeit, den Patienten nicht nur als »Fall« zu betrachten, sondern auch als Menschen. Das ist eine richtige Erwartungshaltung, und jeder Arzt wird, so gut es geht, versuchen, dieser Forderung gerecht zu werden.

    Jeder Arzt hat jedoch verschiedene Patienten, und auch für den Notarzt stehen im Laufe eines Notdienstes häufig genug ganz unterschiedliche Notfälle an. In jedem einzelnen die richtigen medizinischen Entscheidungen zu treffen, Leben zu retten und sich anschließend gleich wieder auf einen neuen Fall einzustellen, das ist nur möglich, wenn der Arzt distanziert und eine unsichtbare Trennlinie zwischen ihm und dem Patienten existiert.
    Was bedeutet das für das Thema dieses Buches? Es kann nicht die Stresssituation allein sein, die den Menschen überfordert und ins Hamsterrad treibt. Wäre das so, müsste jeder Notarzt früher oder später durchdrehen. Die meisten Ärzte absolvieren diese Dienste jedoch ohne Probleme immer wieder, selbst wenn sich nicht leugnen lässt, dass manche Ereignisse in dieser Zeit sehr belastend sein können.
    Daraus kann man aber den Schluss ziehen, dass auch die zunehmende Belastung, die die meisten von uns im Alltag erfahren, normalerweise durchaus zu bewältigen wäre. Diese Belastung ist aber eben nur dann zu bewältigen, wenn der Mensch sich seiner Mitte noch gewiss ist, wenn er in sich ruht und negative Dinge zu distanzieren versteht.
    Die weitaus meisten Menschen haben über diese Fähigkeit früher immer automatisch verfügen können, weil es Pausen gab und nicht den katastrophalen Daueralarm unserer Tage. Das Bombardement mit Negativnachrichten, dem wir uns heute kaum entziehen können, sorgt für eine simulierte Katastrophensituation, der unsere Psyche irgendwann nicht mehr gewachsen ist. Die Psyche schaltet an einem bestimmten Punkt um auf »Katastrophe« und versucht fortan, diesen Zustand zu erhalten.

    Was ich also beschreibe, ist eine Art fataler Rückkopplung in der Psyche, die diese in einen von den äußeren Umständen her gar nicht notwendigen Zustand versetzt. Mit dieser Erkenntnis wird klar, warum ich hier nicht darüber schreibe, wie man im Einzelfall einen »Burn-out«, einen Zusammenbruch oder andere offensichtliche Stressfolgen behandelt.
    Mir geht es um ein gesellschaftliches Phänomen, das unser aller Zusammenleben mittel- und langfristig in den Grundfesten erschüttern könnte. Gerade auch die beschriebenen Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, denen eine psychische Reife, wie sie heute die meisten Erwachsenen noch besitzen, gar nicht mehr ermöglicht wird, stellen eine große Gefahr dar. Dort ist gewissermaßen die Sollbruchstelle, an der die Bedeutung sichtbar wird, die die beschriebenen Phänomene über Einzelschicksale hinaus haben.
    Wenn es nur einzelne Erwachsene wären, deren Psyche im Katastrophenprogramm läuft, würde ich das hier nicht thematisieren. Wenn das jedoch auf viele zutrifft, kann es sich auf die gesamte nachfolgende Generation auswirken.
    Wir können uns nicht gegen den technischen Fortschritt stemmen, auch nicht gegen den medialen Wandel.