Last Exit
objektiven Blick auf die Realität.
Als ihr Chef anrief, um ihr mitzuteilen, dass ein amerikanischer Filmproduzent namens Milo Weaver in der Redaktion nach ihr gefragt hatte, ließ sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen. »Hast du ihm gesagt, wo er mich finden kann?«
»Mensch, Zsuzsa. Ich bin doch nicht total korrupt. Er hat eine Nummer hinterlassen.«
Das war eine Option. Das Telefon bot ihr die Distanz, die sie benötigte, um notfalls genauso schnell von der Bildfläche zu verschwinden wie Henry.
Trotzdem rief sie nicht an. Dieser Typ mit Namen Milo
Weaver hatte zu viele Berufe, zu viele Geschichten. In Henrys goldenem Brief hatte gestanden, dass man ihm vertrauen konnte, aber es gab einen Riesenunterschied zwischen Milo Weaver und einem Mann, der sich Milo Weaver nannte. Und sie hatte keine Möglichkeit, herauszufinden, ob das eine oder das andere zutraf.
Immerhin hatte sie ein paar Informationen über ihn. Gleich nach dem Mordversuch an Henry vor vier Monaten hatte sie im Internet recherchiert. Ein CIA-Angestellter, Sachbearbeiter in einem Finanzressort der CIA – wahrscheinlich also die Geheimabteilung Tourismus, die Thomas Grainger geleitet hatte. Doch zum Zeitpunkt des Überfalls auf Henry hatte Weaver wegen eines Finanzvergehens in einem Gefängnis im Bundesstaat New York gesessen – »Unterschlagung« war der konkreteste Begriff, den sie dafür fand. Fotos gab es nirgends.
Daher entschied sie sich fürs Schweigen; sie wusste ja ohnehin nichts. Dass Henry aus seinem monatelangen Schlaf erwacht war, mit schwachen Muskeln und ausgetrocknetem Mund und in der festen Überzeugung, dass SIE ihn bald holen würden, natürlich, das konnte sie erzählen. Aber falls jemand nach Henry suchte, war ihm all das längst bekannt. Die Einzelheiten des Überfalls? Henry war seine Erinnerungen viele Male mit ihr durchgegangen, um ganz sicher zu sein, dass sie sich jedes Detail eingeprägt hatte. Sogar seine eigenen Fehler hatte er ihr gestanden und sich weinend dafür entschuldigt, sie belogen zu haben: Er hätte sie für die Story nicht gebrauchen können.
»Glaubst du, das war mir nicht klar?« Ihre Bemerkung hatte seine peinlichen Tränen endlich zum Versiegen gebracht.
Sie wohnte im Haus eines Freunds im siebzehnten Bezirk,
nahm sich eine Woche frei und ließ sogar ihren regelmäßigen Wochenendauftritt im 4Play Club ausfallen. Sie vermied alle ihr bekannten Orte, denn wenn Milo Weaver etwas von seinem Fach verstand, waren sie ihm ebenfalls schon bekannt.
Trotz der leichten Paranoia empfand sie dieses Exil als erfrischend, weil sie endlich Zeit zum Lesen hatte, die sie dummerweise Imre Kertész widmete. In dem Bewusstsein, dass ein Geheimagent nach ihr suchte und dass Henry spurlos untergetaucht war, musste sie bei der Lektüre des Nobelpreisträgers nur an Selbstmord denken.
Am vierten Tag dieses Urlaubs vom Leben, wie sie es nannte, trank sie mit ihrem Gastgeber Kaffee und schaute anschließend durchs Fenster zu, wie er zur Arbeit ging. Sie ließ den Roman von Kertész beim Fernseher liegen und duschte, dann schlüpfte sie in eine modische Jogginghose. Sie hatte beschlossen, sich hinauszuwagen und ihren zweiten Kaffee in einem nahe gelegenen Café zu trinken. Sie steckte Telefon und Vogues in ihre Handtasche, schnappte sich eine Jacke und schloss die Wohnungstür auf. Auf der Fußmatte stand stumm ein Mann. Knapp eins fünfundachtzig, blond, blauäugig, lächelnd. »Elnézést.« Das perfekt ausgesprochene Verzeihung lenkte sie kurz von der Tatsache ab, dass sein Aussehen genau der Beschreibung Milo Weavers entsprach.
Als es ihr auffiel, war es schon zu spät. Er drückte ihr die Hand auf den Mund und schob sie zurück an die Wand. Mit einem leichten Tritt nach hinten schloss er die Tür. Er blickte kurz nach beiden Seiten, während sie vergeblich versuchte, ihn in die Finger zu beißen. Dann schlug sie mit der Handtasche nach ihm. Sie schrie in seine Handfläche, aber es war nur ein hilfloses Lallen. Mit der freien Hand entriss er ihr die Tasche und warf sie auf
den Boden. Er benötigte nur eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen; er war unglaublich stark.
Schließlich redete er sie auf Englisch an. »Beruhigen Sie sich, ich will Ihnen nichts tun. Ich suche nur nach Henry.«
Als sie blinzelte, spürte sie Tränen auf den Wangen.
»Ich heiße Milo Weaver. Ich bin mit ihm befreundet. Und wahrscheinlich der einzige Freund, der Henry im Augenblick helfen kann. Also hören Sie auf zu schreien.
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