Lauf, wenn du kannst
Samstagvormittag auf Bewährung auf freien Fuß gesetzt. Das Problem ist nur, dass samstags grundsätzlich keine Gefangenen entlassen werden.«
»Um das hinzukriegen, muss man Kontakte auf höchster Ebene haben«, wandte Bobby ein.
»Ja«, erwiderte sie leise.
»Wo sind Sie jetzt?«
»Unterwegs zu einem Termin mit dem neuen Arzt. Er hat mich für ein Uhr bestellt.«
»Ist das der Spezialist, den Dr. Rocco empfohlen hat?«, fragte Bobby.
»Ja.«
»Wir treffen uns dort.«
Er bereitete sich innerlich auf das Wiedersehen mit ihr vor und ließ das Gespräch mit Dr. Lane noch einmal Revue passieren: Catherine sei schlau, mit allen Wassern gewaschen und äußerst gerissen. Er sei ein Mann mit Problemen. Catherine glaube, sich verteidigen und um ihr Leben kämpfen zu müssen, und sei deshalb zu allem fähig. Er sei ein Mann, der es eigentlich besser wissen müsste.
Als er in die diskrete, teure Eleganz verströmende Eingangshalle der Arztpraxis kam, blieb er wie vom Donner gerührt stehen.
Sie stand allein in einer Ecke und trug dieselben Sachen wie gestern Nacht. Der schwarze Rock war zerknittert, der graue Kaschmirpullover hatte schon bessere Zeiten gesehen, ihr Gesicht war bleich, und ihre Augen waren verquollen. Sie hatte die Arme fest um den Leib geschlungen und wirkte viel zu mager, zu erschöpft und zu zart, um eine so gewaltige Last zu schultern.
Catherine blickte auf, bemerkte ihn, und eine lange Zeit musterten sie einander quer durch den leeren Raum.
Er erinnerte sich an ihr Treffen im Gardner Museum vor nur zwei Tagen. Catherines eng anliegendes schwarzes Kleid. Ihre bleistiftdünnen Absätze. Ihre strategisch gewählte Position vor einem erotischen blauen Gemälde. Alles, angefangen bei ihrer Kleidung, bis hin zu ihrem Verhalten und ihren Äußerungen, war bis ins Letzte geplant und inszeniert gewesen – die Catherine Gagnon, vor der ein Mann sich mit gutem Grund fürchtete. Auf diese Frau hingegen traf das überhaupt nicht mehr zu. Bobby durchquerte den Raum. »Nathan?«
»Er ist bei meinem Vater.« Sie räusperte sich. »Wir mussten dorthin. Letzte Nacht. Meine Kreditkarten sind gesperrt worden. Die Automatenkarte auch. Heute Morgen habe ich die Bank angerufen. Sie lassen mich an keines der Konten ran, da sie offenbar alle in Jimmys Namen eröffnet wurden.«
»Der Richter«, sagte Bobby leise.
»Umbrio war in meinem Haus«, flüsterte sie. »Als ich Nathan zu Bett bringen wollte, funktionierten die Nachtlichter nicht. Wir hatten solche Angst ... Dann bin ich in den Wandschrank gegangen. Und dort auf dem Boden lagen alle kleinen Birnen: Buh! Da hatte sie jemand fein säuberlich hingelegt. Und ich weiß ganz genau, wer es war.«
»Catherine ...«
»Er hat Tony ermordet. Er hat Prudence getötet. Und bald bringt er mich auch um. Das hat er geschworen. Danach sehnt er sich schon lange. Tag um Tag. Das verstehen Sie nicht.«
Ihre Hand fuhr hoch, und sie kratzte sich hektisch am Hals.
»Catherine ...«
»Ich war zu lange allein in der Dunkelheit«, murmelte sie. »Ich kann das Licht nicht mehr finden. Nicht für mich und nicht für Nathan«
Als er sie in die Arme nahm, sackte sie gegen ihn und krallte, am ganzen Leibe zitternd wie Espenlaub, die Finger in die Falten seines Hemdes. Sie war so zart und so winzig, dass er ihr Gewicht an seiner Brust kaum spürte.
Nun nahm er die Aura der Erschöpfung wahr, die – nach all den schlaflosen Nächten voller Zweifel, Angst und Entsetzen – von ihr ausging. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass alles gut werden würde. Dass er nun da sei und dass sie sich auf ihn verlassen könne. Nie wieder würde sie sich fürchten müssen.
Aber zu viele Männer hatten ihr dieselben haltlosen Versprechungen gemacht.
Das wusste er nur zu gut.
Sie ebenfalls.
Also streckte er nur die Hand aus und streichelte ihr Haar.
Und für einen kurzen Moment presste sie sich fest an seine Brust.
Die Tür ging auf, und eine Sprechstundenhilfe erschien. »Der Herr Doktor hat jetzt Zeit, Mrs Gagnon.«
Catherine richtete sich auf und machte sich los.
Bobby ließ die Hand wieder sinken.
Als sie sich in Richtung Flur wandte, folgte er ihr. Doch kurz bevor sie durch die Tür gingen, blieb sie noch einmal stehen.
»Ich habe nie gesagt, ich hätte Jimmy nicht geschadet«, meinte sie.
Und dann betraten sie das Büro des Arztes.
34
Mr Bosu war müde. Nun erinnerte er sich an das sprühende, prickelnde Hochgefühl, das stets mit einem guten Plan einherging. Da war
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