Lauf, wenn du kannst
Grund haben sie Georgia verlassen. Deshalb existiert Maryanne nicht. Denn sie musste sich natürlich einen neuen Namen zulegen. Und darum gibt es vermutlich keine Heiratsurkunde. Sie hätten den Bluttest nicht bestanden.«
Er wandte sich an Dr. Iorfino. »Können genetische Fehler eine Generation überspringen?«
»Aber natürlich.«
»Und können zwei verwandte Partner auch gesunden Nachwuchs bekommen? Oder muss der Defekt zwangsläufig bei allen Kindern auftreten?«
»Nein, es ist durchaus möglich, dass der Nachwuchs gesund ist. Denken Sie nur an die königlichen Familien im Europa vergangener Jahrhunderte. Viele ihrer Mitglieder haben Cousins ersten Grades geheiratet und hatten dennoch verhältnismäßig gesunde Kinder. Allerdings schwächt Inzucht den Genpool. Früher oder später ...«
»Also wurden James und Maryanne ein Paar. Nehmen wir mal an, dass sie Cousins ersten Grades sind.«
Stirnrunzelnd sah Bobby Catherine an.
»Laut Harris ist Maryannes Familie kurz vor der Hochzeit ums Leben gekommen. Was ist mit James’ Familie? Haben Sie die Gagnons je von anderen Verwandten sprechen hören? Großeltern, Tanten, Onkeln, irgend jemandem?«
»Nein, Jimmy sagte, seine Eltern kämen aus kleinen Familien, von denen niemand mehr am Leben sei. Mehr weiß ich nicht.«
»Also lernen James und Maryanne sich kennen. Vermutlich war ihre Familie nicht unbedingt begeistert davon, aber dann starb sie. Ganz plötzlich und unerwartet. Ein tragischer Unfall. Problem gelöst. James und Maryanne zogen hierher und fingen von vorne an, und zwar mit einem neuen Namen für Maryanne und einer neuen Vergangenheit für sie beide. Sie hatten einen Sohn.«
»Jimmys älteren Bruder«, flüsterte Catherine. »Der, der als Kleinkind gestorben ist.«
»Vielleicht ist Nathan ja nicht der erste männliche Abkömmling der Gagnons, der an Fanconi-Bickel erkrankt ist. Harris meinte, James Junior sei ein schwächliches Baby gewesen.«
»Fanconi-Bickel tritt in ganz verschiedenen Schweregraden auf«, erklärte Dr. Iorfino. »In sehr schweren Fällen ...«
»Aber bei Jimmy wies nichts auf eine ... Störung hin«, widersprach Catherine.
»Inzucht ist keine Garantie dafür, dass es bei jedem einzelnen Nachkommen tatsächlich zu einer genetischen Katastrophe kommen muss, Mrs Gagnon. Sie wird dadurch nur wahrscheinlicher.«
»Eine tickende Zeitbombe«, fügte Bobby leise hinzu.
»O mein Gott, der arme Nathan ...« Und im nächsten Moment sah Bobby ihr an, dass sie zu derselben Schlussfolgerung gelangt war wie er, denn ihre Augen weiteten sich plötzlich vor Entsetzen. Sie drehte sich zu ihm um. »Aber wenn Nathan an diesem Syndrom leidet ... wenn andere herausfinden, dass Nathan daran erkrankt ist, dann ...«
Bobby nickte mit finsterer Miene.
»Genau. Und deshalb ist der Richter auch so scharf auf das Sorgerecht. Wer Nathan in seiner Gewalt hat, besitzt den Schlüssel zum dunkelsten Geheimnis der Gagnons. Und dafür lohnt es sich, einen Mord zu begehen.«
35
Als sie Dr. Iorfinos Büro verließen, läutete Bobbys Mobiltelefon. Er verzog das Gesicht, aber Catherine schob ihn in eine Ecke der Vorhalle.
»Ich muss ohnehin meinen Vater anrufen«, sagte sie. »Und ihm sagen, dass wir fertig sind und dass er Nathan vorbeibringen kann.«
Bobby nickte, entfernte sich ein paar Schritte von Catherine und klappte sein Telefon auf. D.D. war am Apparat, und ihre Stimme klang ziemlich merkwürdig.
»Wo steckst du? Ich versuche schon den ganzen Vormittag, dich zu erreichen.«
»Ich hatte zu tun. Was gibt’s?«
»Bist du mit ihr zusammen?«, erkundigte sich D.D.
Bobby brauchte nicht nachzufragen, wen D.D. meinte, denn er erkannte es an ihrem Tonfall.
»D.D., was willst du?«
»Wo bist du?«
»Wenn du meine Frage beantwortest, beantworte ich deine.«
Schweigen entstand, und Bobby versuchte stirnrunzelnd, es zu deuten. Allerdings kam er damit nicht weit. »Inzwischen liegen die Ergebnisse der ballistischen Untersuchung von Jimmy Gagnons Waffe vor«, sagte D.D. »Die Neun-Millimeter war vollständig geladen. Kein einziges Geschoss fehlte aus dem Magazin. Keine Schmauchspuren am Griff. Überhaupt nichts. Diese Pistole wurde niemals abgefeuert.«
»Aber ich dachte ...« Bobby hielt inne. Er verstand die Welt nicht mehr. Außerdem ahnte er, dass da etwas im Argen lag, konnte jedoch nicht feststellen, worum es ging.
»... in dem Bericht hätte gestanden, es seien Schüsse gemeldet worden«, beendete D.D. den Satz für
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