Lauf, wenn du kannst
zu machen.
Vergeblich versuchte Bobby, sein Fernglas so einzustellen, dass er sehen konnte, was sich in der dunklen Nische links verbarg. Als er den Blick rasch über die anderen erleuchteten Fenster des Hauses gleiten ließ, war von weiteren Bewohnern nichts zu erkennen.
Wo also waren Frau und Kind? Versteckt in den Falten des auf dem Bett drapierten Stoffes? Verkrochen sie sich im Wandschrank? Oder lagen sie tot auf dem Boden?
Bobby spürte, wie sich ihm vor Anspannung der Magen zusammenkrampfte, und er zwang sich, ruhig durchzuatmen. Konzentrier dich. Lebe im Moment, ohne dich auf ihn einzulassen. Bewahre Abstand.
Kennst du den Unterschied zwischen einem Schützen und einem Scharfschützen? Ein Schütze hat einen Puls, ein Scharfschütze nicht.
Bobby machte sich auf eine lange Wartezeit gefasst. Er stellte die Stützvorrichtung optimal ein, schob den Schaft seines Gewehrs in die Verankerung, bis die Höhe stimmte, rutschte mit dem Stuhl so zurück, dass er sich auf den Tisch lehnen konnte, und stemmte den Gewehrkolben fest gegen die Schulter. Als er mit der Position zufrieden war und sich die Waffe stramm, aber bequem an ihn schmiegte, als gehörte sie zu seinem Körper und wäre so etwas wie ein dritter Arm, beugte er sich vor, bis er den Schaft mit der Wange berührte und sein Auge so genau durch das Zielfernrohr spähte, dass das Fadenkreuz die ganze Welt zu erfassen schien. Er konnte alles sehen und alles treffen.
Noch einmal musterte er die männliche Person, die inzwischen über den Rand des schmiedeeisernen Bettes blickte.
Bobby legte ein Spitzgeschoss ein und richtete das Fadenkreuz langsam auf den Hinterkopf des Mannes. Sein Atem ging flach, sein Puls war ruhig. Seine Hand zitterte nicht, als er auf den Mann anlegte.
Scharfschützen der Polizei wurden nur für eines ausgebildet, nämlich einen Verdächtigen, der möglicherweise den Finger am Abzug hat, mit einem einzigen Schuss schachmatt zu setzen. Monatelang hatte Bobby geübt, den Hirnstamm eines Menschen zu durchtrennen.
Er war zufrieden mit seiner Position. Der Winkel war gut, die Entfernung zu bewältigen. Eine minimale Ablenkung durch die Scheibe der Balkontür musste er zwar einberechnen, doch die 165-Grain-Munition war dieser Aufgabe gewachsen. Da die Zielperson sich nicht bewegte, brauchte er sich keine Gedanken über Abweichungen zu machen, und auf diese geringe Distanz konnte er Wind und Wetterbedingungen vernachlässigen.
Er nahm das Auge vom Zielfernrohr, wobei er darauf achtete, die Position der Waffe nicht zu verändern, machte mit der rechten Hand Eintragungen in sein Logbuch und notierte Munitionstyp, Einstellung des Zielfernrohrs und Informationen zur aktuellen Lage. Dann griff er nach dem Fernglas, mit dem man ein breiteres Gesichtsfeld hatte, und beobachtete weiter die Situation, ohne dabei die Waffe zu bewegen.
Der Mann war einige Schritte auf das Fußende des Bettes zugetreten. Bobby spürte, wie sich Anspannung aufbaute und auf den Höhepunkt zusteuerte. Zunächst konnte er sich dieses Gefühl nicht erklären, doch kurz darauf erhielt er die Antwort.
Es lag an der Körperhaltung des Mannes. Seine Schultern waren gereckt, das Kinn vorgeschoben und die Beine leicht gespreizt. Eine Herrscherpose. Offenbar versuchte der Mann, sich aufzuplustern, um größer und stärker zu wirken. Bobby wäre jede Wette eingegangen, dass das Gesicht des Mannes, das er nicht sehen konnte, zu einer hasserfüllten Grimasse verzerrt und rot vor Wut war. Erneut hielt Bobby Ausschau nach der Frau und dem Kind, aber wieder vergeblich. Allerdings befanden sich die beiden eindeutig im Raum, da der Mann sonst nicht in dieser Haltung verharrt hätte. Bobby war neugierig, welches Gesicht er gerade machte.
Da sich im Moment nichts tat, begann er, seinem Team die Lage im Haus zu schildern. Der üblichen Vorgehensweise entsprechend, bezeichnete er die Seiten des Backsteinhauses mit den Buchstaben A, B, C und D. Da die Nachbarhäuser jedoch von rechts, links und hinten unmittelbar an das fragliche Gebäude angrenzten, blieb nur die Vorderseite A übrig. Anschließend nummerierte er jede Etage von null bis vier und zusätzlich den Keller. Und zu guter Letzt beschrieb er jede Öffnung in der Fassade A, hielt fest, ob es sich um ein Fenster oder eine Tür handelte, gab die jeweilige Größe an und nummerierte sie von links nach rechts, beginnend mit der Nummer eins.
Das Ergebnis war eine einheitliche Schilderung, anhand derer sich alle orientieren konnten.
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