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Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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schwenkte, bemerkte Bobby, dass die Frau etwas rief. Das Kind – einen Jungen? – hielt sie fest an sich gedrückt. Es hatte das Gesicht an ihre Brust geschmiegt, und sie hielt ihm die Ohren zu.
    Die Situation schaukelte sich offenbar hoch. Und zwar so plötzlich, dass Bobby nicht feststellen konnte, was die Konfrontation ausgelöst hatte. Auf einmal brüllte der Mann. Durch das Zielfernrohr erkannte Bobby, dass ihm der Speichel aus dem Mund sprühte und dass die Muskeln an seinem Hals hervortraten. Es war ein unwirkliches Gefühl, Zeuge eines solchen Wutausbruchs zu werden, ohne einen Mucks zu hören.
    Die Frau stand auf, das Kind noch immer vor die Brust gedrückt. Inzwischen hatte sie aufgehört, zu schreien, und schien eine Entscheidung gefällt zu haben. Während der Mann weiter tobte, sah sie ihn einfach nur an. Unvermittelt zielte der Mann auf den Kopf der Frau und streckte die linke Hand aus, als fordere er sie auf, ihm das Kind zu übergeben.
    »Männliche Person bedroht weibliche Person mit Waffe«, hörte Bobby sich selbst melden. »Männliche Person zielt mit der Waffe ...«
    Die Waffe weiter auf den Kopf der Frau gerichtet, umrundete der Mann mit schnellen, zornigen Schritten das Bett. Sie schwieg und wich keinen Meter zurück. Im nächsten Moment hatte der Mann sie erreicht und begann unter Wutgebrüll, mit der linken Hand an dem Kind zu zerren.
    Der Junge löste sich von der Brust seiner Mutter. Kurz sah Bobby ein kleines, bleiches Gesicht mit dunklen, weit aufgerissenen Augen. Der Kleine stand Todesängste aus. »Männliche Person hat Kind in ihrer Gewalt. Der Mann stößt das Kind durchs Zimmer.« Weg von seiner Mutter. Weg von dem, was gleich geschehen würde.
    Bobby war zwar voll und ganz bei der Sache, allerdings ohne Beteiligter zu sein. Als er das Zielfernrohr einstellte, geschah das so automatisch wie das Atmen. Er rutschte ein winziges Stück nach links und veränderte dadurch leicht den Winkel, während der Mann seinen Sohn zum Fußende des Bettes schubste und dann wieder auf seine Frau zutrat.
    Das Kind verschwand im bauschigen weißen Tüll. Nun waren Mann und Frau, das Ehepaar, allein. Jimmy Gagnon schrie nicht mehr, doch seine Brust hob und senkte sich ruckartig.
    Endlich sagte die Frau etwas, und in der von Bobbys Leupold-Zielfernrohr vergrößerten Welt war jedes Wort deutlich von ihren Lippen abzulesen.
    »Was nun, Jimmy? Was ist noch übrig?«
    Plötzlich lächelte Jimmy, und dieses Lächeln verriet Bobby genau, was gleich geschehen würde.
    Jimmy Gagnons Finger krümmte sich um den Abzug. Aber Bobby Dodge, fünfzig Meter entfernt im abgedunkelten Schlafzimmer des Nachbarhauses sitzend, war schneller als er.
     
    Bobbys Atem ging keuchend und stoßweise, und es war, als hätte sich eine unerträgliche Anspannung plötzlich gelöst, sodass sich seine Brust wieder frei anfühlte. Er nahm den Finger vom Abzug und zuckte zurück wie ein Mann, der eine lebendige Klapperschlage wegschleudert. Doch er blickte weiter durch das Zielfernrohr. Er sah, wie die Frau zum Fußende des Bettes stürzte, das Kind in die Arme nahm und den Kopf des Jungen von der ausgestreckten Leiche seines Vaters abwandte.
    Einen Moment lang standen Mutter und Sohn, in enger Umarmung und die Gliedmaßen ineinander verschlungen, da. Sie hatte die Wange an seinen Scheitel gepresst. Dann hob die Frau den Kopf, und sie spähte über die Straße in das Fenster ihres Nachbarn. Als ihr Blick auf den von Bobby Dodge traf, spürte er ein Prickeln, das er sich nicht erklären konnte.
    »Danke«, flüsterte sie.
    Als Bobby vom Tisch aufstand, bemerkte er, dass er ziemlich schwer atmete und sein Gesicht mit Schweiß bedeckt war.
    »Du heiliger Strohsack!«, stieß Mr Harlow hervor, der immer noch auf der Türschwelle stand.
    Endlich nahm die Umwelt wieder Gestalt an. Schritte hallten. Sirenen heulten. Männer stürmten herbei. Einige hasteten auf die Frau zu, die anderen auf Bobby.
    Bobby legte die Hände auf den Rücken, stemmte die Beine in den Boden und wartete ab, wie er es in seiner Ausbildung gelernt hatte. Er hatte seinen Auftrag erledigt. Er hatte einem Menschen das Leben genommen, um einen anderen zu retten.
    Und nun würde gleich die Hölle los sein.

4
     
    Das Sturmteam verschaffte sich Zugang zum Haus und fand dort eine männliche Person vor, der inzwischen der halbe Kopf fehlte. Dann trat die Einheit rasch den Rückzug an, denn nun fiel das Haus nicht mehr unter die Zuständigkeit von STOP. Es war ein ganz

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