Lauf, wenn du kannst
Der Mann stand also vor der Balkontür, Seite A, dritter Stock, Öffnung drei, was sich im Eifer des Gefechts auch mit A-drei-drei abkürzen ließ. Auf diese Weise sparte man sich die Debatte, von welcher Position aus betrachtet nun links oder rechts gemeint war. Drei knappe Koordinaten, und jeder war im Bilde.
Nachdem der Grundriss auf diese Weise festgelegt war, führte Bobby seine eigene Überprüfung durch und hielt Ausschau nach Merkmalen, die ihm aufgrund seiner jahrelangen Berufserfahrung wichtig erschienen. Wies das Haus Anzeichen von Vorbereitungen auf? Verbarrikadierte Türen? Mit Brettern vernagelte Fenster? Wollte jemand verhindern, dass sein Treiben von außen beobachtet wurde? Heruntergezogene Jalousien? In den Weg gerückte Möbelstücke? Vorbereitungen waren nämlich ein Warnsignal. Ebenso wie durch die Fenster abgegebene Schüsse oder offene Gewaltandrohungen.
Bis jetzt war alles ruhig geblieben. Im gesamten Haus war bis auf die männliche Person, einen Meter zwanzig entfernt von der Balkontür, niemand zu sehen. A-drei-drei. Bobby senkte das Fernglas und beobachtete den Raum durch das Zielfernrohr seines Gewehrs.
Durch die offene Schiebetür drang ein eisiger Wind herein, sodass ihm die Kälte ins Gesicht schlug und seine Finger steif wurden. Wenn sein Kollege eintraf, würde er ihn bitten, die Schiebetür zu schließen, aber dicht davor sitzen bleiben, um sie nötigenfalls sofort wieder öffnen zu können. Im Moment war es noch auszuhalten. Sein Atem ging regelmäßig, seine Muskeln waren entspannt. Er hatte sein Gleichgewicht gefunden. Ruhig, aber bereit. Aufmerksam, aber locker. Wer sparsam zielt, trifft selten daneben. Er dachte nicht einmal mehr an den Kartentisch, den kalten Novemberwind oder an den sensationslüsternen Mr Harlow, der noch immer hinter ihm auf der Schwelle stand.
Bald würden die Geiselnahmespezialisten erscheinen, den Verdächtigen anrufen und versuchen, eine friedliche Lösung zu finden. Wenn noch niemand zu Schaden gekommen war, würde es der Unterhändler vermutlich schaffen, den Mann zu überreden, sofort aufzugeben, solange ihm nichts weiter als Gesichtsverlust drohte. War die Familie jedoch verletzt oder sogar tot, wurde es schon schwieriger. Doch das Krisenmanagement-Team bestand aus fähigen Leuten. Erst im letzten Jahr war Bobby Zeuge geworden, wie der Chefunterhändler, Al Hanson, drei entflohene Sträflinge dazu gebracht hatte, sich kampflos zu ergeben, und dies, obwohl allen drei Verbrechern eine lebenslange Haftstrafe bevorstand, sodass sie bei einer Schießerei nichts mehr zu verlieren gehabt hätten. Anschließend hatte Bobbys Lieutenant jedem Gefangenen auf die Schulter geklopft und sich aufrichtig für seine Einsicht bedankt.
In Situationen wie diesen brodelten die Beteiligten förmlich vor Adrenalin, Testosteron und Aufgekratztheit. Und dann erschien Bobbys Mannschaft und versuchte, die Lage zu beruhigen. Man dürfe doch nichts überstürzen. Gewalt sei keine Lösung. Wenn Sie jetzt nicht die Nerven verlieren, wird alles wieder gut.
Bewegung. Auf der anderen Straßenseite drehte sich der Verdächtige plötzlich um und ging mit zornigen Schritten nach rechts. Endlich konnte Bobby einen kurzen Blick auf eine Pistole erhaschen.
»Weiße männliche Person bewegt sich vor Balkontür A-drei-drei. Offenbar hat er eine Neun-Millimeter-Pistole in der rechten Hand. Weiße weibliche Person«, fügte Bobby dann plötzlich mit einem Anflug von Triumph in der Stimme hinzu. »Langes schwarzes Haar, dunkelrotes Oberteil, scheint hinter dem Bett, etwa fünf Meter entfernt von Balkontür A-drei-drei, zu knien oder zu sitzen. Weißes Kind, dunkles Haar, an weibliche Person gepresst. Klein, circa zwei oder drei Jahre alt.«
Lieutenant Jachrimos Stimme hallte durch den Empfänger. »Bewegen sich die Frau oder das Kind? Irgendwelche Anzeichen von Verletzungen?«
Bobby runzelte die Stirn. Schwer zu sagen. Der Mann, der inzwischen schnell hin und her lief und mit der Pistole herumfuchtelte, versperrte ihm die Sicht. Auf der Suche nach weiteren Einzelheiten richtete Bobby das Zielfernrohr auf die Waffe des Mannes. Aber das war schwierig, weil der Verdächtige einfach nicht stehen blieb. Bobby änderte seine Blickrichtung und versuchte stattdessen, sich in die männliche Person einzufühlen. Wie hielt er die Waffe? Wie ging er im Raum umher? Hatte er Erfahrung mit Pistolen? Oder war er ein aufgebrachter Laie? Das war ebenfalls schwer festzustellen.
Als der Mann nach rechts
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