Lauter reizende Menschen
bitter: »Es ist mir nicht gerade angemessen, im Zimmer eines Bediensteten zu nächtigen! Warum zieht nicht deine Freundin Lucia um?«
»Das kommt nicht in Frage, Mutter!« stieß Annabel mit ungewohnter Entschiedenheit hervor. »Ich denke nicht daran, Lucia aus ihrem eigenen Haus zu vertreiben! Du kannst doch froh sein, daß du überhaupt ein Bett bekommst! Stell dir vor, dein Wagen hätte dich weit von hier entfernt auf der Landstraße im Stich gelassen!«
»Ich hätte mir zu helfen gewußt!« versicherte Augusta hoheitsvoll. »Der Geist des Pioniers in mir ist noch immer recht lebendig!«
»Dann hast du jetzt die rechte Gelegenheit, ihn zu beweisen! Übrigens: Sieh dir doch nur das Zimmerchen an, wie freundlich und sauber es ist! Und Bettzeug kann Lucia dir geben, soviel du willst!«
Augusta begutachtete den Raum, und ihr Gesicht hellte sich auf. Annabel nutzte die günstige Gelegenheit weidlich aus. »Und was für ein Romanstoff bietet sich dir da an: Übernachtung im Schatten der Tankstelle! Mutter, unbedingt mußt du die Heldin deines nächsten Buches in diese Lage bringen. Welche Abenteuer könnte sie hier erleben!«
Mrs. Wharton lächelte beglückt. »Abenteuer... eine ganze Nacht hindurch.« Und sofort fügte sie ein wenig bedauernd hinzu: »Aber natürlich nicht mit Len. Sondern mit einem dunkelhaarigen Fremden!«
Alles andere klappte reibungslos. Mit liebenswürdiger Geste, wie sie ihr zuweilen ganz überraschend zu Gebote stand, ging Augusta zu Len zurück und dankte ihm herzlich dafür, daß er ihr sein Zimmer zur Verfügung stellte; in dankbarer Anerkennung erlaubte sie ihm, ihre drei ansehnlichen Schrankkoffer hinunterzuwuchten. Inzwischen kämpfte Annabel im Haus gegen das Ungestüm ihres Söhnchens.
»Nein, du darfst kein Benzin in das Auto füllen! Pumpen sind nichts für kleine Kinder! Nein, das Buch gehört Lucia; leg es sofort wieder hin! Nein, Rosie bekommt kein Schokoladenplätzchen; die habe ich Lucia mitgebracht!«
Endlich entwischte ihr der Junge, und Lucia berichtete später, daß er Len beim Säubern der Garage und beim Aufstellen des Feldbettes begeistert half. »Er ist gut aufgehoben. Len paßt schon auf ihn auf! Im Augenblick versenken sie sich gerade beide in einen ganzen Stapel alter Rennzeitschriften, die Len oben auf dem Dachboden gefunden hat. Offenbar hat Onkel Peter in seiner lotterhaften Jugend auch für Pferde geschwärmt!«
In der Garage schmökerte Len aufmerksam in einer alten Nummer einer englischen Turfzeitschrift, während James ihm gegenübersaß und seine Versunkenheit imitierte.
»Komisch!« murmelte Len plötzlich. »Ich möchte wetten, daß das Mr. Purdy ist, in jungen Jahren zwar, aber doch unverkennbar! Dabei hat er nie erzählt, daß er mal Jockei war, und auch von Ceylon hat er kein Wort gesagt!«
James sprang auf und schaute ernsthaft über Lens Schulter auf die ganzseitige Aufnahme eines großen, anscheinend mächtig stolzen Rennpferdes, das von einem schmächtigen Rennreiter am Zügel gehalten wurde. »Die Stute >Martha<, die in der vorigen Woche im Mittelpunkt eines Dopingskandals stand. Die Aufnahme wurde nach ihrem ersten Sieg im Rennen der Zweijährigen in Colombo gemacht«, las Len seinem kleinen Freund laut vor, der weise mit allen Anzeichen lebhaftesten Interesses nickte.
»Vor allem das Haar erinnert an ihn, mit den beiden Wirbeln, und der Ohransatz ist ebenfalls ganz der gleiche. Ich muß ihm das Bild einmal zeigen und ihn fragen, ob er es wirklich ist!«
»Da kommt Mutti!« rief James.
»Wie nett von Ihnen, Len, daß Sie meiner Mutter das Zimmer überlassen!« Annabel kam auf den jungen Mann zu. »Werden Sie es hier auch gemütlich genug haben?«
»Unbedingt, Mrs. Middleton. Und oben habe ich sogar einen dicken Stapel Zeitschriften gefunden, meist über Rennen und so! Das ist herrlich.«
»Da können Sie sich ja ein bißchen für Ihre Wetten anregen lassen!« Damit packte sie die zaudernde Hand ihres Sprößlings und zerrte ihn, ohne auf seine alsbald laut werdenden Protestrufe zu achten, aus der Garage.
Len ließ sich auf sein bereits halbfertig gemachtes Bett sinken und gab sich wieder seinen Studien hin. Als wenige Minuten später ein Wagen draußen hielt, erhob er sich nur zögernd. Kaum aber erkannte er den Mann hinterm Steuer, da rannte er eilig hinaus.
»Guten Tag, Mr. Purdy! Zwanzig Liter...? Übrigens möchte ich Ihnen etwas zeigen!«
Nachdem der Tank gefüllt war, lief er das Wechselgeld holen und brachte die
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