Lauter reizende Menschen
gesagt hatte. Alles in allem war er zweifellos ein unangenehmer Zeitgenosse, und doch...
In diesem Augenblick knurrte Rosie leise, und Lucia setzte sich im Bett auf. Niemals meldete sich der Hund bei Nacht, und fast niemals rührte er sich überhaupt. Was war da los? Schon berührte Lucias Hand den Schalter, um Licht zu machen, dann aber zögerte sie. Mit drei flinken Schritten war das Mädchen am Fenster und schob den Vorhang beiseite. Einen Wagen konnte Lucia nicht entdecken, dennoch hatte sie den Eindruck, daß sich irgend etwas verstohlen bewegte. Sie ergriff die Taschenlampe und schaltete sie ein. Nun sah sie auch Rosie: Der Hund stand an der Tür und beschnupperte den Spalt darunter, während er mit gesträubten Nackenhaaren das seltsame, asthmatische Knurren hervorstieß. Ganz still war es im Haus, und auch draußen war kein Laut zu vernehmen. Vielleicht war alles nur pure Einbildung, und Rosie wollte nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Leise öffnete Lucia die Tür, und sofort schoß der große Hund an ihr vorbei ins Freie. Niemals hätte das Mädchen ihm zugetraut, daß er sich so flink und geräuschlos bewegen konnte.
Und dann brach die Hölle los. Schreckliche Knurrlaute der wütenden Rosie erklangen von der Garage her, krachend knallte das Garagentor zu, und gellend schrie jemand um Hilfe.
Nur eine Sekunde zögerte Lucia, aber in dieser kurzen Zeit vernahm sie das Tapsen eiliger Füße und dann Rosies langsam in der Ferne verklingendes Bellen. Das gellende Schreien hörte nicht auf, und hin und wieder unterschied man jetzt sogar ein paar Wörter. »Hilfe! Mörder!« Eben wollte Lucia beherzt in die Finsternis springen, als hinter ihr Annabel auftauchte. Verschlafen und noch ganz benommen wimmerte sie: »Was ist denn los? Wer schreit da?« Dann aber erwachte sie plötzlich mit einem Ruck. »Lucia! Das war ja Mutter! Man hat ihr etwas angetan!« Und eilends rannten die beiden jungen Frauen barfüßig durchs taunasse Gras zur Tankstelle hinunter.
Noch immer waren die Schreie nicht verstummt. Mrs. Whartons Lungen waren erfreulich kräftig, und Lucia schloß daraus, daß die Dame bisher nicht ermordet war. Aber irgend jemand war bestimmt da, und anscheinend hatte der Betreffende sie angegriffen. War es denkbar, daß Rosie noch gerade zurechtgekommen war, um einen zweiten Mord zu verhindern?
ZWÖLFTES KAPITEL
Annabel beugte sich über ihre Mutter, die inzwischen das gellende Schreien eingestellt hatte und sich einem gedämpften, tragischen Stöhnen hingab. Endlich brachte sie ein paar Worte hervor — so dramatische Worte, daß die Tochter sich aufrichtete und Lucia zuflüsterte: »Alles in Ordnung! Sie ist nicht verletzt!«
»Bestimmt nicht?«
»Nein! Sie fängt bereits an, eine Szene zu spielen.«
»Zu Boden geworfen!« stöhnte die Dichterin. »Im Dunkeln niedergetreten. Eine entsetzliche Gegend. Mörder um und um!«
In diesem tragischen Augenblick kehrt Rosie bei bester Laune zurück, offenbar froh, daß sie wieder daheim war, wenngleich enttäuscht, weil sie ihr Wild im Finstern verloren hatte. Sie sprang Lucia an und warf sie fast um, und dann leckte sie Mrs. Wharton um Entschuldigung bittend die Wange. Das ging zu weit! Augusta setzte sich auf und bat in würdevoller Empörung, man möge ihr zu Bett helfen.
»Aber wie kamst du nur dazu, liebste Mutter, mitten in der Nacht, im Nachthemd, hier herumzuschleichen?« fragte Annabel unvorsichtigerweise, während sie ihrer Mutter auf die Füße half.
Die taktlose Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. Augusta schüttelte die Hand der Tochter ab, und ihre Stimme schwoll zu wahrem Theaterdonner an. »Herumschleichen! Ha! Sieht es mir ähnlich, bei Nacht herumzuschleichen? Zu euer aller Glück döste ich nur im Halbschlaf vor mich hin. Deshalb vernahm ich sogleich ein eigenartiges Schlurfen, und sofort wurde mir klar, daß neues Morden nahe war! Ohne die leiseste Angst zu haben, kam ich heraus, um euch zu beschützen. So, und nun sage noch einmal, ich sei geschlichen!« Theatralisch wankend schickte sie sich an, zu ihrem Bett zu schreiten. Zerknirscht lief Annabel ihr nach und ergriff ihren Arm. Lucia aber dachte: >Quatsch, sie hat Angst bekommen und ist hinausgelaufen, um Len zu rufen!<
Len? Plötzliches Erschrecken überfiel sie. Was mochte Len zugestoßen sein? Warum war er nicht längst zu Hilfe gekommen? Mit einem Schlage war Augusta vergessen, und Lucia stürmte auf das offenstehende Garagentor zu. »Len!« schrie sie. »Len! Ist
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