Lautlos wandert der Schatten
Was hat dir der Weg
eigentlich gebracht? All diese Mühen und Strapazen, diese lange Zeit und die
Einsamkeit? Für mich kann ich es so beantworten. Es gibt für mich eine neue
Zeit: die Zeit nach dem Weg. Ich habe mich ganz anders erlebt als sonst; ich
habe an mir Seiten entdeckt, die mich überraschten, weil ich sie bislang
unterdrückt hatte; ich habe meine Anliegen nicht mehr so wichtig genommen, weil
ich die Bitten und Hoffnungen so vieler Menschen mitgetragen, aber dann auch
losgelassen habe; ich habe auf eine ganz unmittelbare Weise über Gott
nachgedacht, ihn als Begleiter in meinen einsamen Stunden erfahren und nicht
nur mein Bild von ihm, sondern auch mein Reden über ihn korrigieren müssen.
Meine Verkündigung hat einen neuen Schwerpunkt: Für Gott können wir nichts, für
den Menschen alles tun. Deswegen ist er für uns Mensch geworden.... Ich habe
neue Beziehungen geknüpft und alte auf gegeben...
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Ach, der Himmel über mir,
will die Erde nie berühren
und das Dort ist niemals hier
I n
Molina Seca, nach fast 50 km schwerem Weg übers Gebirge, benötigen wir erst
einmal einen kirchlichen Stempel, bevor wir in das örtliche Refugio einziehen
dürfen. Doch Hochwürden, Párroco des hl. Nikolaus, ist nicht so gütig wie der
Patron dieser kleinen, malerischen Stadt am Arroyo Meruelo. Die Pilger scheinen
ihm so lästig wie Fliegen auf seiner makellosen Soutane. Ungnädig übersieht er
die Wegelagerer Gottes. Erst mit einiger List erhalten wir über die
Haushälterin das wichtige Siegel. Doch so stolz sich der Pfarrer auch gibt,
sein Refugio ist auch eines sehr bescheidenen Pilgers höchst unwürdig; es
besteht in nichts anderem als in einem nackten Steinfußboden vor den
öffentlichen Aborten des kleinen Rathauses. Wir können es nicht fassen.
Also
machen wir uns in der Dämmerung müde und zerschlagen noch einmal auf die
Straße. Eine Stunde ist es noch bis Ponferrada. Dort vergebliche Suche nach
einem Quartier. Schließlich wenden wir uns an den hl. Michael, den Weggeleiter
der Deutschen, um gnädige Mithilfe, denn längst ist es Nacht geworden. Da hat
ein junger Spanier noch eine Empfehlung für uns, ein kleines Hotel jenseits des
Río Sil im neueren Teil der Stadt. Sein Name: San Miguel. Und welch eine Freude!
Wir kamen dort unter. Der Erzengel selber hatte uns dort das letzte Zimmer
reserviert mit einem frugalen Abendessen dazu. Und auch das Bier, das wir uns
genehmigen, trägt seinen Namen: San Miguel.
In
Ponferrada erhebt sich die stolze Burg der Templer, die hier zwischen 1185 und
1312 residierten; sie sieht aus wie aus einem Bilderbuch mit ihrer Zugbrücke,
den Mauern, Zinnen und Türmchen. Doch die Industrie hat der Stadt arg
zugesetzt. An ihren Rändern türmen sich gewaltige Kohleberge in die Höhe. In der
Kirche Santa Maria Encina finden wir die berühmte Gottesmutter des Bierzo;
genauso berühmt ist der Wein dieser Landschaft, den wir keinesfalls
verschmähen. Ein schönes Beispiel mozarabischer Architektur aus dem 10.
Jahrhundert, ein Zusammenspiel von Arabern und Christen also, findet sich in
der Kirche Santo Tomas de las Ollas am Rande der Stadt. Uns wird nur nicht
klar, was die kleine Kirche mit Kochtöpfen (Ollas) zu tun haben soll.
Wir
überschreiten den Sil und finden in den genormten Straßenzügen der Neustadt nur
schwer einen Weg, der uns auf den Camino zurückbringt. Diesmal ist es ein
Polizist der Guardia Civil, der uns die rechte Spur zeigt. Endlich, inmitten
von Obstgärten, taucht der gelbe Pfeil wieder auf. Manchmal geht es uns wie den
Weisen aus dem Morgenland, wenn sie den Stern und damit ihr Ziel eine Zeitlang
nicht sehen konnten: „Als sie den Stern sahen, wurden sie von großer Freude
erfüllt“ (Mt 2,10). Wir ziehen durch die Wein- und Obstgärten des fruchtbaren
Bierzo und versorgen uns gut, denn „die Trauben am Camino sind für den Pilger“,
klärt uns ein Barwirt auf. Zum guten Rat schenkt er uns noch Tomaten aus seinem
Garten, das Salz dazu.
Hinter
Villafranca geht es aufwärts nach Galizien. Vorher besuchen wir wie alle Pilger
die Santiagokirche mit seinem Portal der Vergebung, und speisen in einem
Refugio, das die Familie Jesus Arias Jato unter einem Zeltdach eingerichtet
hat. Es geht denkbar einfach und gastlich zu, fast wie in einem Beduinenlager;
hier haben wir endlich auch einen Pilger eingeholt, dessen Spur wir schon Tage
verfolgten. Er wundert sich ein bißchen über unsere Begeisterung, als wir an
seinen ausgestreckten Beinen die
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