Lautlos
nicht irgendein Verrückter doch noch etwas tat, womit niemand gerechnet hatte, obwohl das BKA schlichtweg mit allem rechnete, sogar mit dem Einsatz von Giftgasen und Marschflugkörpern. Zwar waren die Teilnehmer des EU-Gipfels nur unter Sicherheitsstufe zwei gefallen – Anschlag nicht auszuschließen – und einige nicht mal das. Aber die Klassifizierung erwies sich als Makulatur. Welche Sicherheitsstufe hatte für Olof Palme gegolten? Für Anwar el Sadat? Was hätte vermuten lassen, dass jemand mit dem Messer auf Oskar Lafontaine losgehen oder Wolfgang Schäuble in den Rücken schießen würde?
Wer immer in den letzten Tagen seinem Flieger entstiegen und über den flaggengesäumten roten Teppich gegangen war – oder daran vorbei wie der griechische Premier Simitis –, musste den Eindruck eines freundlichen, nahezu gelassenen Willkommens gewonnen haben, ohne sich ernsthafte Gedanken um sein Leben machen zu müssen. Geschenkt, dass Lavalliers Leute im Vorfeld Stunden und Tage mit den ausländischen Delegationen zusammengehockt und Sonderwünsche berücksichtigt hatten, um schließlich einen mit Scharfschützen gespickten Flughafen in die diplomatische Feuertaufe für den Supergipfel zu entlassen. Fast schon routiniert hatten sie wenige Tage später die Außenminister begrüßt, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Im Dutzend verlor die Starparade schnell an Glanz. Angesichts des stinknormalen Habitus, den manch politische Prominenz – auf Fleisch und Blut reduziert – an den Tag legte, fühlte man sich im entscheidenden Moment ohnehin eher an den Besuch der alten Tante erinnert. Madeleine Albright, wie üblich unbeeindruckt von jeglichem Pomp, hatte ausgesehen, wie sie immer aussah. Beschäftigt. Sie war in gewohnter Unbeholfenheit die wenigen Stufen heruntergegangen, und Lavallier hatte sich gefragt, ob jemand ihres Kalibers jemals Furcht empfand bei der Landung auf einem fremden Airport, beim Ausrollen der Maschine, beim Abschreiten der Ehrenformation. Der Landeanflug und der kurze Weg vom Flieger zur Limousine waren die kritischsten Momente. Der Alptraum eines jeden Scharfschützen. Der potentielle Tod eines jeden Prominenten.
Hatte Albright Angst?
Nein, hat sie nicht, hatte ihm Major Tom erzählt, wie sie Major Thomas Nader, den Assistant Air Attaché und Sicherheitsbeauftragten des USDAO scherzhaft nannten. USDAO war die Abkürzung für »United States Defense Attaché Office«. In diesen Tagen pendelte Nader zwischen der amerikanischen Botschaft und dem Airport ständig hin und her. Er war damit betraut, die Landung des Präsidenten vorzuplanen und den Wunschzettel der Amerikaner in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und den Repräsentanten des Flughafens bis ins kleinste Detail und möglichst ohne Kompromisse durchzusetzen. Wenn jemand die Befindlichkeit der US-Regierungsvertreter kannte, dann war er es.
Würde Albright jedes Mal Furcht empfinden, hatte Nader gesagt, könnte sie den Job nicht machen. So einfach. Die Amerikaner waren da ziemlich prosaisch. Außenministerin zu sein und in Deutschland einem Flieger zu entsteigen ist etwa so, als ob du, Lavallier, zu deiner Dienststelle fährst und das Auto nimmst. Erstens bist du Polizist und damit höheren Risiken ausgesetzt als die Kassiererin im Supermarkt. Zweitens ist die Gefahr, im Autoverkehr sein Leben zu verlieren, immens höher als in einem Flugzeug. Über nichts davon denkst du nach, weil du sonst verrückt würdest und dein Haus nicht mehr verlassen dürftest. Der Würstchenverkäufer lebt in seiner Welt nicht weniger gefährlich als ein Löwenbändiger in seiner. Die menschliche Seele verfügt über ausgezeichnete Schutzmechanismen. Amerikanische GIs in Vietnam, die durch eine feindliche Dschungelhölle voller Heckenschützen gestolpert waren, hatten sich im Moment der Strapazen weit ernstere Gedanken um die Blasen an ihren Füßen gemacht als darum, im nächsten Moment von einem Projektil zerrissen zu werden. Madeleine Albright begab sich nicht als ältere Frau oder Bürgerin der Vereinigten Staaten in risikoreiche Situationen, sondern ausschließlich in ihrer Funktion als Außenministerin Amerikas. Sie dachte so, handelte so, empfand so. Ihre Angst vor einem Anschlag war nicht größer als die Angst des Imkers, gestochen zu werden, sie tendierte gegen null. Angst hatten nur die, die für ihre Sicherheit sorgen mussten.
Es entsprach amerikanischer Denkart, die Dinge so zu sehen. Schon darum
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