Chuzpe
Prolog
Das Artilleriefeuer hielt schon seit dem ersten Morgengrauen ohne jede Unterbrechung an. Es war unmöglich, sich auch nur für einen kleinen Moment aus der Deckung zu wagen. Immer und immer wieder schlugen die Granaten am Rande des Schützengrabens ein und wirbelten Erde, Steine und Teile des Stacheldrahtverhaus auf. Der Schutt türmte sich im Laufgang bereits meterhoch und machte jede Bewegung innerhalb der Stellung praktisch unmöglich. Salve um Salve ging auf die Männer nieder, verbunden mit einem infernalischen Lärm, der einem nahezu das Trommelfell platzen ließ. Zu der unmittelbaren Gefahr durch die Geschütze kam die Gewissheit, dass nach dem Sperrfeuer mit einem neuen Sturmangriff zu rechnen war, dem man angesichts des beklagenswerten Zustands der eigenen Truppen kaum würde standhalten können.
Natürlich war die versprochene Verstärkung einmal mehr ausgeblieben. Auf dem gesamten Frontabschnitt klafften nennenswerte Lücken in den Verteidigungslinien, die der Feind sicher schon ausgespäht hatte. Dazu kam, dass die Moral der Truppe völlig am Boden war. Seit Wochen lag man hier in diesem erbärmlichen Streifen toter Erde eingegraben und erzielte nicht den geringsten Gewinn an Terrain. Vielmehr stiegen täglich die eigenen Verluste, und wer nicht durch Feindes Hand fiel, den rafften die grassierenden Krankheiten dahin. Als das Bataillon an diesen Teil der Front beordert worden war, hatte es Sollstärke besessen, nun bestand es kaum noch aus einigen Dutzend Männern. Die Offiziere waren weit und breit nicht zu sehen. Eingebunkert saßen sie in ihrem Unterstand und überließen die Soldaten ihrem Schicksal. Und als wäre dies nochnicht fürchterlich genug, gelang es dem Gegner, seine Kanonen von Minute zu Minute genauer auf ihr Ziel einzustellen. Die Richtschützen des Feindes leisteten ganze Arbeit, und die verheerende Wucht des Trommelfeuers vernichtete Mensch und Material im Sekundentakt.
Links und rechts sanken getroffene Kameraden zu Boden, ein letztes Mal noch stöhnend und dann für immer verstummend. Einige schrien nach Leibeskräften – nach einem Arzt, nach den Sanitätern, nach der eigenen Mutter. Andere verfluchten den Feind, das Schicksal, die eigene Generalität, während wiederum andere ihr Heil in lautem Gebet suchten, dessen Intensität in Relation zu jener des Geschützfeuers anschwoll. Als kurz hintereinander mehrere Volltreffer den Schützengraben in ein einziges Trümmerfeld verwandelten, machte sich reine Panik breit. Einige Soldaten wandten sich zu zielloser Flucht, den Flüchen des Stabsfeld keine Beachtung schenkend. Kaum jedoch hatten sie ihre Köpfe aus der Deckung gewagt, wurden sie gnadenlos von den gegnerischen Maschinengewehren niedergemäht und sanken leblos auf die Leiber ihrer toten Kameraden.
Er war mittendrin in diesem unbeschreiblichen Chaos. Zusammengekrümmt auf ein unscheinbares Knäuel Mensch, presste er sich in eine winzige Erdnische und drückte dabei sein Gesicht in den feuchten Matsch vor ihm. Er versuchte, ruhig zu atmen, doch die Panik kroch immer wieder in ihm hoch. Erneut fiel eine Leiche auf seinen Rücken, um von dort langsam zu Boden zu gleiten. Bei jedem Pfeifen einer herannahenden Granate drückte er sich noch fester in sein Loch und hielt unwillkürlich den Atem an. Unmittelbar nach dem Einschlag betastete er, so gut es ging, seinen Körper, als wollte er auf diese Weise feststellen, ob dieser noch ganz war. Mit nacktem Schrecken dachte er an den Korporal, der gleich nach dem Beginn des Bombardements getroffen worden war. Der wardurch die Stellung getorkelt und hatte sich dabei verzweifelt bemüht, sein Gedärm, das ihm aus dem offenen Bauch quoll, festzuhalten. Nach ein paar Metern hatte er die Augen gegen den Himmel gerichtet, sich einmal um die eigene Achse gedreht und war dann einfach umgefallen. Hunderte waren ihm seitdem gefolgt.
Jetzt hatte es seinen Hintermann erwischt, der auf der anderen Seite des Laufgrabens lag. Unwillkürlich riskierte er aus seinem Loch einen Blick auf den Kameraden, der wie am Spieß schrie. Er schloss sofort die Augen, um den Anblick nicht in sein Gedächtnis zu lassen, denn der Mann hatte keinen Unterleib mehr. Einige Sekunden gurgelte er noch, dann war er still.
Still war es in diesem Augenblick plötzlich im gesamten Abschnitt. Das Sperrfeuer hatte aufgehört. Nun würde gleich der Sturmangriff folgen. Er wagte sich vorsichtig aus seiner Nische und suchte nach seinem Karabiner, den er zuvor achtlos neben
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