Lautlos
Söhne Nippons sind lieb, aber furchtbar anstrengend. Was meinen Sie? Lust, meinen Job zu übernehmen?«
O'Connor brummte etwas in sich hinein. Lavallier sah auf.
»Hören Sie mal, O'Connor, wenn Sie wirklich helfen wollen, denken Sie über diese SMS nach.«
»Das tue ich die ganze Zeit.«
»Und? Immer noch überzeugt, sie sagt Ihnen was?«
O'Connor breitete die Hände aus.
»Es ist etwas so Naheliegendes, dass ich es offenbar übersehe. Kennen Sie die Geschichte von Poe, in der jemand einen Brief sucht? Das Ding steckt die ganze Zeit über in einem Postkartenhalter direkt vor seiner Nase, aber er zieht es vor, unterm Sofa nachzusehen und die Schrankwand abzuräumen.«
»Verstehe.« Der Anflug eines Grinsens huschte um Lavalliers Mundwinkel. Dann wurde er wieder ernst. Sein Blick wanderte zu Wagner.
»Als Sie mit Kuhn telefonierten letzte Nacht, war er also komisch.«
Sie nickte.
»Was genau war komisch? Seine Art?«
»Es war nicht Kuhn, wie ich ihn kenne. Er wirkte bedrückt.«
»Bedrückt«, sagte Lavallier langsam. »War er nur komisch, oder hat er auch was Komisches gesagt?«
In Wagners Kopf wuchteten sich zwei lethargische Beamte aus ihren Stühlen und schlurften zu einem großen Tor. Unter Mühen stemmten sie es auf. Davor wartete Lavalliers Frage, um ins Großhirn zu gelangen.
Sie überlegte. Hatte Kuhn etwas Komisches gesagt?
Eine Ahnung dämmerte in ihr hoch.
Worüber hatte sie sich noch gewundert letzte Nacht? Über den Umstand seiner plötzlichen Verlagsreise? Auch. Aber da war noch mehr.
»Ich erinnere mich nicht genau«, sagte sie.
Lavallier nickte.
»Ich mache Ihnen beiden einen Vorschlag«, sagte er. »In wenigen Minuten findet drüben die außerplanmäßige Sitzung statt. Ich lasse Sie so lange allein. Sie können im Holiday Inn frühstücken, es ist nur wenige Schritte von hier hinter dem Verwaltungsgebäude. Ein paar Eier mit Speck täten Ihnen gut, wenn Sie mich fragen. Starker Kaffee. Vorher nimmt im Nebenzimmer eine freundliche Dame Ihre Personalien auf, da müssen Sie durch. Hinterlassen Sie mir die Nummer des Verlags, wir kriegen raus, ob die gestern wirklich mit Kuhn gesprochen haben. Entweder ich finde Sie beide später im Hotel oder wieder hier, okay? Lassen Sie sich Zeit. Denken Sie nach, während Sie frühstücken. Jedes Detail kann wichtig sein, auch wenn es Ihnen noch so unbedeutend vorkommt.« Er lächelte. »Den Spruch kennen Sie mit Sicherheit schon aus dem Fernsehen.«
»Ein Bett wäre mir lieber«, stöhnte Wagner.
Dann fiel ihr ein, dass sie um halb fünf in der Redaktion des WDR erwartet wurde. Und anschließend bei RTL.
Auch das noch.
Andererseits, halb fünf war weit weg. Der WDR und RTL entglitten wieder in Vergessenheit.
»Eine Kleinigkeit noch«, sagte Lavallier im Hinausgehen. »Versuchen Sie Kuhn nicht weiter unter seiner Handynummer zu erreichen. Das machen wir ab jetzt. Alles klar?«
Wagner senkte zustimmend den Kopf.
O'Connor streichelte ihren Nacken. Er sagte ausnahmsweise nichts.
SPEDITION
Im Allgemeinen schnitten Entführer ihren Opfern die Ohren oder einen kleinen Finger ab und schickten sie den Angehörigen per Einschreiben zu. Das Entfernen von Körperteilen schien immer noch das probateste Mittel zu sein, Menschen von der Notwendigkeit größerer Geldausgaben zu überzeugen. Auf diese Weise waren Entführte wie Paul Getty jr. zwar freigekommen, aber gewissermaßen nicht ganz vollständig.
Als Kuhn sah, wie die Frau auf ihn zukam, mit der Linken einen Stuhl umklammert, fürchtete er mehr als den Tod die Möglichkeit, sie könne ihm mit einer blitzschnellen Bewegung irgendetwas abhacken, herunterschneiden oder ausstechen. Er presste sich gegen die Wand, vor der er seit Stunden saß, und versuchte, Abstand zu gewinnen. Die Lächerlichkeit des Vorhabens brachte ihm nichts ein als einen plötzlichen Schmerz im Handgelenk, als die Kette der Handschellen sich straffte und der stählerne Ring in sein Fleisch schnitt. Er stöhnte auf und schüttelte heftig den Kopf.
Sie blieb vor ihm stehen und sah auf ihn herunter.
»Besonders mutig scheinst du nicht zu sein«, sagte sie.
Kuhn zuckte zusammen. Wieder ein Indiz dafür, dass es dem Ende zuging. In der Nacht noch hatte sie ihn gesiezt und mit einer gewissen Höflichkeit behandelt. Zwar hatten sie und der Slawe ihm Löcher in den Bauch gefragt, ihn aber weder misshandelt noch angeschrien. Nach dem Telefonat mit Kika hatten sie ihm das Handy wieder abgenommen und es ausgeschaltet. Das war
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