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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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ob sie schnell genug sein würden. Seit dem Überfall war eine Viertelstunde vergangen. Würde Mirko noch lange genug in seiner Lauerstellung verharren?
    Dann, mittendrin, kam ihr ein neuer Gedanke.
    War er überhaupt noch da draußen?
    Die ganze Zeit über waren sie davon ausgegangen, weil Jana es gesagt hatte. Aber was, wenn Jana sich irrte? Seit Mirko aus der Spedition geflohen war, hatten sie nichts von ihm gehört oder gesehen. Es gab keinen Beweis für seine Anwesenheit.
    Sie sah auf ihre Uhr. Es war erschreckend, wie viel in so kurzer Zeit geschehen war und wie wenig tief es ging.
    Es ist gut so, dachte sie.
    »Kika«, sagte die Terroristin. Sie benutzte ihren Vornamen. Nicht einmal dazu besaß sie das Recht, aber Wagner hatte keine Lust, sich deswegen mit ihr anzulegen. »Komm mit nach hinten.«
    Sie zögerte. Dann sah sie zu O'Connor herüber.
    Er hob den Kopf und lächelte. Sein Lächeln erwärmte sie und versprach ihr Schutz. Und noch etwas glaubte sie darin zu erkennen. Für eine Sekunde fühlte sie sich glücklich und leicht. Alles würde gut werden.
    Sie ging mit Jana in den Computerraum. Immer noch liefen die Fernseher ohne Ton, während die Radioempfänger leise dazwischenplärrten. Jana wies sie mit kurzen, präzisen Worten ein, und plötzlich verlor das, was sie Wagner sagte, seinen Schrecken. Eigentlich schien es ziemlich leicht zu sein.
    »Täusch dich nicht«, sagte Jana. »Du musst sehr genau hinschauen.«
    »Und wenn es nicht klappt?«
    »Dann klappt die Variante.«
    Sie nickte.
    Einem plötzlichen Drang nachgebend, sagte Wagner:
    »Warum tun Sie so etwas?«
    Jana sah von Gruschkows Arbeitstisch auf und blickte ihr in die Augen.
    »Was? Töten?«
    »Wenn Sie es geschafft hätten, Clinton zu töten, was hätten Sie damit erreicht? Noch mehr Mord und Gewalt? Sie nehmen sich das Recht heraus, Leben auszulöschen, Sie misshandeln Menschen, die Ihnen nichts getan haben, warum? Ich will wissen, was Sie für ein Mensch sind, Jana!«
    »Das willst du nicht wissen«, sagte Jana kühl. »Du möchtest wissen, was für eine Bestie ich bin. Welche Sorte Monster. Du hast dein Urteil gefällt, jede Erklärung wäre Zeitverschwendung, also lassen wir's.«
    Sie ging zur Tür.
    »Mehr haben Sie nicht zu bieten?«, sagte Kika.
    Jana blieb stehen und drehte sich zu ihr um.
    »Was soll das werden?«, fragte sie spöttisch. »Ein Gespräch von Frau zu Frau?«
    »Ich will wissen, warum Sie Kuhn so zugerichtet haben.«
    »Gruschkow hat Kuhn so zugerichtet. Vielleicht hätte ich Kuhns Leben geopfert, um meines zu retten. Das gebe ich zu. Aber ich hatte niemals vor, ihm das anzutun, ich hasse es, Menschen zu quälen. Sie können es glauben oder nicht.«
    »Nein«, sagte Wagner. »Sie haben Recht, das kaufe ich Ihnen tatsächlich nicht ab. Leben ist Ihnen doch vollkommen gleichgültig.«
    Die Frau sah sie aus ihren großen, dunklen Augen an. Wagner hätte erwartet, Zorn darin zu entdecken, aber sie las nichts, was sie kannte. Sie blickte auf die Oberfläche einer anderen Welt.
    »Ich bin in Belgrad aufgewachsen«, sagte die Terroristin. »Eine sehr schöne Stadt. Warst du mal dort? Wenn du von den Brücken auf die Häuser siehst im Spätsommer, liegt ein ganz eigenartiges Licht darauf. Aber die Brücken sind ja wohl zerstört. Wir haben immer nur gelernt, wer wir nicht sind, bis Milošević kam. Davor waren wir ein Rippenstück des sowjetischen Torsos. Danach haben wir erfahren, wer wir sein könnten, wenn man uns nicht immer alles weggenommen hätte. Meine Eltern interessierten sich nicht für Mythologie, dafür habe ich sie verachtet. Ich wollte etwas tun. Kämpfen. Nicht gegen, sondern für die Menschen. Also ließ ich mich ausbilden, Waffenkunde, Kampftechniken, Schießtraining, all das. Ich wollte nicht töten, verstehst du, nur stark sein und gewappnet, weil ich mein Land geliebt habe. Als Kind war ich oft bei meinen Großeltern in der Krajina – kennst du die Krajina?«
    Wagner schwieg.
    »Natürlich nicht. Du weißt nichts über mein Land. Das waren die schönsten Jahre. Meine Großeltern haben sich nie Gedanken darüber gemacht, ob es richtig oder verkehrt ist, irgendwo zu leben. Serbien hatte die alten angestammten Gebiete besetzt, Westslawonien und die Krajina, und da lebten sie halt. Aber die Kroaten erhoben Anspruch darauf, also sind sie '95 dort eingefallen. Sie haben die Serben aus dem Land gejagt. Die Welt hat flüchtig hingesehen und nicht mit Bombardierung gedroht, obwohl zweihunderttausend Menschen

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