Lautlos
worden war, traf Mirko am späten Vormittag am internationalen Flughafen Scheremetjewo 2 ein. Er hatte sich nirgendwo für die Übernachtung eingemietet. Sein Aufenthalt würde nur wenige Stunden dauern, bis ihn der Flieger zurückbrachte in das Land des alten Mannes. Geduldig ließ er die umständliche Prozedur der Passkontrolle über sich ergehen, die hier immer noch in stundenlangem Schlangestehen gipfeln konnte. Er unterschrieb die übliche Zollerklärung und trat nach draußen. Sofort wurde er von mehreren illegalen Taxifahrern angesprochen. Mirko beachtete sie nicht. Er hatte einen Wagen vorbestellt, das Beste, was man tun konnte, wenn man Moskau anflog. Es war preiswerter, und man musste nicht warten.
Er war entspannt und guter Laune. Alles verlief nach Plan. Sie hatten den YAG. Die Frachtpapiere wiesen als Absender ein ukrainisches Institut aus. Adressat war eine deutsche Versuchsanstalt für Quantenforschung, wo der YAG jedoch nie angekommen war. Mittlerweile befand er sich an seinem Bestimmungsort in Köln. Die Spiegel waren im schweizerischen Chur in Arbeit, sie würden nächste Woche eintreffen. So gut wie fertig gestellt war der riesige Pritschenwagen. Janas Verbindungsleute leisteten hervorragende Arbeit, aber natürlich wussten sie nicht, worum es ging. Sie würden das Ding selbst in die Spedition schaffen müssen, so wie sie selbst auch die fünfundzwanzig Meter Eisenbahnschienen dort verlegt hatten. Es war kein Pappenstiel gewesen, aber dafür hatten sie nun alles, was sie brauchten.
Mirko nahm auf der Rückbank des Wagens Platz und widmete sich einer Zeitung.
Die knapp dreißig Kilometer bis zum Stadtzentrum zogen sich hin. Es war einer jener Moskauer Tage, die man aus Fernsehbildern kannte und die der Stadt nicht gerecht wurden. Der Himmel wies sich durch keine spezifische Struktur aus. Er war von einem diffusen Weißgrau, aus dem stecknadeldünne Eiskristalle wehten. Es lag Schnee, nicht genug, dass es für romantische Anwandlungen gereicht hätte, sondern eben so viel, um den Eindruck der Trostlosigkeit zu steigern. In der äußeren Peripherie passierten sie endlose Reihen grauer Wohnsilos. Alle Farbe schien aus der Welt gewichen zu sein. Wer zu Fuß unterwegs war, eilte über die Schneefelder als flüchtiger Schatten, den Kopf gesenkt, konturlos.
Die Innenstadt bot ein anderes Bild. Mirko besaß keine nennenswerte kulturelle Bildung. Er konnte die Baustile nicht zuordnen, aber er mochte das Gemisch aus Konstruktivismus, Stalins Monumentalstil, barocken Elementen und Moderne. Moskau war eine gewaltige, beeindruckende Stadt. Doch auch hier schienen die Menschen nur widerwillig ihre Häuser verlassen zu haben. Der Verkehr war dicht und aggressiv. Etwas Unfrohes lastete auf der Metropole. Die Depression, die Wirtschaftskrise, die Willkür eines Cholerikers, dem die Kontrolle längst entglitten war, das Schattenimperium der Geschäftemacher, Tschetschenien, das Ultimatum der Nato, Serbien zu bombardieren, und das Gefühl tiefster Demütigung.
An jeder Ecke sah Mirko, was das Land bewegte. Russlands offenkundige Friedensliebe und der Protest gegen den angekündigten Einsatz der Nato kaschierte nur schlecht die wahren Hintergründe des Protests, das Misstrauen gegen Amerika und seine Verbündeten, die Angst, überrannt zu werden, nichts mehr zu gelten, die Furcht vor der Okkupation und dem endgültigen Aus. Dass die demokratischen Kräfte im Land vor einem militärischen Eingreifen der Nato warnten, weil sie befürchteten, den konservativen Falken werde damit Nahrung gegeben, und dass sie um die Reformen fürchteten, verhallte mehr oder weniger ungehört. Was blieb, waren Zorn und Katzenjammer und eine gefährliche Saat, falls die Nato ihre Drohung wahr machen würde.
Russland verging an der Fäulnis eines gewaltigen Minderwertigkeitskomplexes, der von der russischen Seele Besitz ergriffen hatte, Leid und Hass erzeugte und alte Gespenster wachrief. Die Ereignisse um das Kosovo schürten die Ressentiments gegen den Westen und speziell gegen die USA, die schon länger schwelten, und ließen offene Feindschaft aufflammen. Eine Art instinktiver Panslawismus hatte von der Gesellschaft Besitz ergriffen, eine angeblich traditionelle Sympathie für das Brudervolk der Serben. Dass man sich unter Stalin und Tito alles andere als freundlich gegenübergestanden hatte, schien vergessen. Bei näherer Betrachtung erwies sich Russlands Haltung gegen den Westen und die Nato eher als Reaktion auf die Probleme im
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