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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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dabei geblieben! Warum bloß holte ich sie herein in unser Leben?
    Im unruhigen Halbschlaf jener Nacht stritt ich mit zwei Frauengestalten, die sich überlagerten, verformten und vermischten. Die eine von ihnen, die bedrohliche Macht über mich und mein Schicksal zu haben schien, war Ruth Adamek, meine langjährige Assistentin und die stellvertretende Leiterin unseres Labors. ›Vergessen?‹ hatte sie ungläubig gefragt, als ich ihr am Telefon erklärte, warum ich die Sitzung versäumt und nicht einmal angerufen hatte. ›So versteh doch‹, sagte ich, ›Lea hatte einen Unfall, und ich konnte an nichts anderes denken.‹ ›Ist sie im Spital?‹ Nein, hatte ich geantwortet, sie sei bei mir. Als sei das ein Eingeständnis von Schuld, hatte Ruth eine Weile geschwiegen. ›War denn kein Telefon in der Nähe? Kannst du dir vorstellen, wie das für uns war: mit diesen hohen Tieren einfach dazusitzen und nichts zu deiner Abwesenheit sagen zu können?‹ So war es in Wirklichkeit gewesen. Im Traum sagte sie etwas anderes: ›Warum rufst du nie an? Interessiert es dich überhaupt nicht mehr, was ich mache?‹ Heute sitzt sie hinter meinem Schreibtisch, ehrgeizig, kompetent und mit einer Brille von Cartier auf der Nase. Im Traum damals warf ich ihr vor, daß sie mir eine Geige verkauft hatte, deren Steg beim ersten Bogenstrich alles zum Einsturz brachte. Meine Empörung machte, daß ich die zornigen Worte mühsam herauswürgte. Ruth ließ mich einfach stehen und wandte sich dem nächsten Kunden zu. Sie bediente jetzt bei Krompholz und lachte das gellende Lachen der Putzfrau, die im Labor saubermachte.«
5
    BEIM ESSEN LACHTEN WIR über den Traum. Zum ersten Mal lachten wir zusammen. Van Vliets Lachen kam zögernd, wie mit ungläubigem Anlauf, und später, als es flüssiger geworden war, war ich sicher: Er hatte das Gefühl überwinden müssen, das Recht auf Lachen verwirkt zu haben. Wir saßen draußen, in einem geschützten Innenhof des Restaurants, umgeben von Mauern, deren frisches Weiß in der provençalischen Sonne so hell leuchtete, daß es weh tat. Saintes-Maries-de-la-Mer – das ist für mich der Ort dieser hellen Mauern, in denen ich Van Vliet lachen sah.
    Hätte ein solches Lachen auch zu Tom Courtenay gepaßt? Jahre, nachdem ich den Film gesehen hatte, sah ich ihn in London auf der Bühne. Eine Komödie. Er war gut, aber so wollte ich ihn nicht, und in der Pause ging ich. Van Vliet wollte ich so, von diesem Lachen hätte ich mir noch viel mehr gewünscht. Es zeigte, daß er außer Leas Vater und dem Opfer ihres Unglücks noch ein anderer war, ein Mann von Charme und blitzender Intelligenz. Ich wünschte, ich könnte neben das Foto, das ihn trinkend im Gegenlicht zeigt, eines mit seinem lachenden Gesicht stellen.
    Er hatte sich zusammengenommen und Mineralwasser bestellt, nur zum Kaffee ließ er sich einen Grappa bringen. Ob ich Frau und Kinder habe, wollte er wissen. Fast hätte man die distanzierte Art, in der er fragte, für förmliche Höflichkeit halten können, und einen Moment lang war ich verletzt. Doch dann begriff ich, was es war: vorweggenommene Abwehr. Er fürchtete sich vor einer Antwort, die ihm einen Mann zeigen würde, der mehr Glück gehabt und es mit Frau und Kindern besser gemacht hatte.
    Ich sagte etwas von meiner Scheidung und vom Internat, fand sonst aber die Worte nicht, um ihm zu erklären, wie es mit Joanne gewesen war und wie es mit Leslie war. Und so erzählte ich von dem Jungen, der aus der Ausfahrt geschossen kam und plötzlich vor meinem Wagen stand. Nur Zentimeter hatten gefehlt. Das Herz hämmerte auf der ganzen Fahrt nach Hause und hörte auch auf dem Sofa nicht auf. Ich rannte ins Bad und übergab mich. Eine schlaflose Nacht mit Kamillentee. Am Sonntag hatte ich frei, döste durch den Tag, ließ den Fernseher laufen, versuchte mich abzulenken. Bohrender Kopfschmerz, wie ich ihn aus der Zeit vor dem Staatsexamen kannte. Und dann der Montag morgen im Operationssaal.
    »Ich habe meinen Händen nicht mehr getraut, dem motorischen Gedächtnis. Was war nach dem ersten Schnitt zu tun? Wohin mit dem vielen Blut? Wortlos reichte mir die Schwester das Skalpell. Sekunden verrannen. Ich spürte die Blicke der anderen auf mir. Pauls fassungslose Augen über dem Mundschutz. Der bohrende Kopfschmerz auf dem Weg nach Hause. Auf langen Spaziergängen bin ich oft stehengeblieben, habe die Augen geschlossen und bin in Gedanken an den Operationstisch getreten. Die Angst vor dem Blut ging nicht weg,

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