Lea
zusammenhing, beschreiben soll, finde ich keine besseren Worte als diese: Sie nahm es und begann zu spielen. Ganz so, als hätte sie die ganze Zeit darauf gewartet, daß man ihr endlich das Instrument bringe, für das sie geboren worden war. ›Von dem Mädchen geht eine solche Autorität aus‹, sagte Katharina Walther, als sie sie beim ersten öffentlichen Auftritt in der Schule sah. Und genau das war es, was sie ausstrahlte, wenn sie die Geige in die Hand nahm: Autorität. Autorität und Anmut.
Wo ist sie geblieben, diese natürliche Autorität, die aus jeder ihrer spielenden Bewegungen sprach? Wohin ist sie erloschen?«
Van Vliet verschluckte sich am Rauch, der Adamsapfel bewegte sich hektisch. Ich betrachtete sein Gesicht vor der weißen Wand: Hinter dem gesunden, sportlichen Braun wurde eine Ruine sichtbar. Er wischte sich mit dem Ärmel die Hustentränen aus den Augen, bevor er fortfuhr.
»Noch etwas anderes geschah mit Lea: Beinahe über Nacht wurde aus dem bisher so fügsamen Mädchen eine kleine Erwachsene voller Eigensinn. Zum ersten Mal erlebte ich diese Verwandlung, als wir auf die Suche nach einer Violinlehrerin gingen.
Für Lea kam nur eine Frau in Frage, das war schon am nächsten Morgen klar. Nach der Schule fuhren wir zu den drei Adressen, die mir das Konservatorium gegeben hatte. Lea lehnte die drei Frauen rundweg ab, und sie tat es stets auf die gleiche Weise: Kaum hatte das Gespräch begonnen, stand sie unvermittelt auf und ging wortlos zur Tür. Jedesmal fuhr ich zusammen, stammelte Worte der Entschuldigung und machte hilflose Handbewegungen zum Zeichen meiner Ratlosigkeit. Wenn ich sie nachher auf der Straße fragte, erhielt ich zur Antwort keine Erklärung, sondern nur ein hartnäckiges, obstinates Kopfschütteln, das von einem trotzigen Beschleunigen des Schritts begleitet wurde. Da bekam ich eine erste Ahnung, was es hieß, eine Tochter mit eigenem Willen zu haben.
MARIE PASTEUR. Dieser Name sollte für uns beide wie ein Leuchtfeuer werden, das alles in eine nie gekannte Helligkeit tauchte, uns blendete und in unserem Leben schließlich untilgbare Brandspuren hinterließ. Dabei entging er mir fast, als wir an jenem Tag auf dem Heimweg an der Messingtafel vorbeifuhren, in die er mit schwarzglänzenden Buchstaben eingraviert war, zusammen mit dem Wort violinunterricht. Das Haus steht an einer Kreuzung, die ich bereits überfahren hatte, als mir bewußt wurde, was ich gesehen hatte. Ich trat so heftig auf die Bremse, daß Lea aufschrie und ich um ein Haar einen Auffahrunfall verursachte. Ich fuhr um den Block und parkte direkt vor dem Haus. Die Messingtafel hing an dem schmiedeeisernen Tor, durch das man in den Vorgarten trat, und sie wurde jetzt, wo die Nacht hereinbrach, von den beiden Lichtkugeln beleuchtet, die knapp über den Torpfosten zu schweben schienen.
›Jetzt versuchen wir es noch mit ihr ‹, sagte ich zu Lea und deutete auf den Namen.
Während wir den Vorgarten durchschritten und auf die schwarze Tür mit den Messingbeschlägen zugingen, sah ich Hans Lüthi vor mir, den Biologielehrer, dem ich es verdanke, daß ich die Maturität schließlich doch noch machte. Wir trafen uns im Souterrain der Buchhandlung Francke, wo die Bücher über Schach standen. Es war am Vormittag eines gewöhnlichen Wochentags, und ich hatte Lüthis Stunde geschwänzt. Ich gab mich abgebrüht und nonchalant, aber es war mir peinlich.
›Es wird eng, Martijn‹, sagte Lüthi und sah mich mit ruhigem, stetem Blick an. ›Ich weiß nicht, ob ich in der nächsten Konferenz noch etwas für dich tun kann.‹
Ich machte eine lässige Bewegung mit der Schulter und wandte mich ab.
Doch seine Worte hatten mich berührt. Nicht, weil sie von meinem drohenden Rausschmiß aus dem Gymnasium handelten, den ich schon lange kommen sah, sondern weil Trauer darin gelegen hatte und Sorge um mich, den widerborstigen, trotzigen Jungen, der aus disziplinarischen Gründen seit längerem nicht mehr tragbar war. Wirklich und wahrhaftig: Es hatte Sorge in seinen Worten und seinem Blick gelegen. Es war so lange her, daß sich jemand meinetwegen Sorgen gemacht hatte, daß es mich jetzt geradezu verstörte.
Die gesammelten Partien von Capablanca in der Hand, stand ich blicklos vor dem Regal, als Lüthi mich an der Schulter berührte. ›Die sind für dich‹, sagte er und gab mir zwei Bücher. Ich habe mich, glaube ich, mit keinem Wort bedankt, so überrascht war ich. Hans Lüthi, der Mann mit dem biederen Namen, den ewig
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