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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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meine Bereitschaft in Frage stellen, Lea als eigene Person anzuerkennen? Und wie konnte er mir auf seine sanft diktatorische Art zu verstehen geben, daß es diese Unfähigkeit war, die sie zu seiner Patientin gemacht hatte? Sie ziehen nicht nach Saint-Rémy. Mein Gott!«
4
    VAN VLIET WAR WIEDER AUFGESTANDEN und schickte sich an, von neuem zum Wasser zu gehen. Man konnte die geballten Fäuste in der Jackentasche erkennen. Ich ging mit. Er holte den Flachmann hervor, zögerte und warf mir einen Blick zu. Ich fing den Blick auf und hielt ihn fest. Sein Daumen rieb am Flachmann.
    »Ich möchte aber noch mehr von der Geschichte hören«, sagte ich.
    Auf seinem Gesicht erschien ein schiefes Lächeln. Für Tom Courtenay hatte es keinen Anlaß zu einem solchen Lächeln gegeben, aber es wäre auch für sein Gesicht ein mögliches Lächeln gewesen.
    »Okay«, sagte Van Vliet und steckte den Flachmann zurück in die Tasche.
    Ein Mann mit einem Neufundländer kam auf uns zu. Der Hund lief voraus und blieb hechelnd vor uns stehen. Van Vliet streichelte ihm den Kopf und ließ sich die Hand lecken. Wir sahen uns nicht an, aber wir wußten beide, daß wir an Lea und die Tiere dachten. Die Art, wie sich unsere Gedanken in diesem Augenblick verschränkten: Hatte ich das mit Joanne jemals erlebt, oder mit Leslie? Und ich kannte Martijn van Vliet noch keinen halben Tag.
    Der Hund lief weg, und Van Vliet rieb die Hand an der Hose ab. Wir gingen bis zum Wasser. Der Wind hatte nachgelassen, die Wellen plätscherten nur noch leise.
    »Lea liebte es, wenn das Meer spiegelglatt war. Es erinnerte sie an das Bimmeln der Glocke in einem japanischen Kloster, frühmorgens. Sie mochte solche Filme. Und solche Vergleiche. Einmal, während der Olympiade in Seoul, schaltete ich spätnachts das Fernsehen ein. Die Koreaner würden ihr Land das Land der Morgenstille nennen, sagte der Reporter. Lea war lautlos, auf bloßen Füßen, hinter mich getreten, schlaflos nach dem vielen Üben. ›Wie schön‹, sagte sie. Wir guckten uns die Ruderboote an, die durch das glatte Wasser schnitten. Das war wenige Monate nach Loyolas Auftritt im Bahnhof.«
    Er nahm einen schnellen Schluck aus dem Flachmann. Die Bewegungen waren mechanisch, ohne sein Zutun, er hatte sich hinter ihnen bereits wieder dem Strom des Erinnerns hingegeben.
    »Lea blickte zur Rolltreppe, auf der die Geigerin verschwunden war, begann zu gehen und knickte mit dem Fuß ein. Es war, als habe sie mit dem Gehen begonnen, bevor der Körper nach ihrer träumerischen Abwesenheit wieder ganz in ihrem Besitz war. Sie humpelte und verzog vor Schmerz das Gesicht, aber es geschah nicht trotzig und verbissen wie in der letzten Zeit, wenn ihr etwas weh getan hatte; eher war es ein zerstreuter Ausdruck, der den Schmerz mehr als etwas Lästiges denn als etwas erscheinen ließ, das Aufmerksamkeit verdiente. Ich habe von diesem Einknicken geträumt, ich hielt Leas Bein wie ein Arzt, aber auch wie einer, der an dem Mißgeschick schuld war. Der Traum hielt sich viel länger als die harmlose Zerrung am Fußgelenk, die rasch verheilte. Doch schließlich, als Lea aufblühte, verlor er sich. Mit meinen verstohlenen Besuchen in den Hospizgärten von Saint-Rémy kehrte er wieder. Ich tue darin nichts, ich sehe Lea nur in einiger Entfernung vorbeihumpeln, ihr Alter ist vage, ihr Gesicht ist fremd, und ich erwache mit dem Gefühl, Zeuge einer tiefen Beschädigung ihres Lebens geworden zu sein. Elle est brisée dans son âme , sagte der Maghrebiner.
    Wie anders sah es an jenem Abend nach Loyolas Konzert aus! Wir gingen zusammen durch die Stadt. So waren wir noch nie zusammen durch Bern gegangen. Es war, als gingen wir außerhalb der Zeit, vom Stein der Arkaden und der übrigen Wirklichkeit durch eine Lücke getrennt, einen winzigen Hiat, der es aussehen ließ, als gingen uns die tausend vertrauten Dinge nicht das geringste an. Das einzige, was zählte, war, daß Lea ging, wie sie schon lange nicht mehr gegangen war, befreit und zielstrebig, und daß sie dadurch die Hoffnung in mir entfachte, ihre Seele sei durch die Musik im Bahnhof wiedererweckt und verflüssigt worden.
    Sie humpelte, schien aber keinerlei Notiz davon zu nehmen. Die fortwährende Mißachtung des Schmerzes gab ihrem Gang eine Bestimmtheit, die keinen Zweifel daran ließ, daß sie es war, die entschied, wohin wir gingen. Lange Zeit sprachen wir kein Wort. Stumm führte sie mich durch Straßen und Gassen, durch die ich seit Jahren nicht mehr gegangen war.

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