Lea
Lager brachte und vor mich hinlegte, war aus hellem Holz mit feiner, unruhiger Maserung. Ich nahm sie so vorsichtig in die Hand, als könnte sie durch eine energische Bewegung zu Staub zerfallen. ›Möchten Sie nicht Ihre Tochter mitbringen, damit wir sicher sind, daß sie von der Größe her damit zurechtkommt?‹ Diese Frau kannte mich gerade mal eine halbe Stunde, und schon traf sie ins Schwarze. Gut, es war auch eine ganz natürliche, praktische Frage. Aber im Rückblick will es mir scheinen, als ob sie spürte, daß ich dabei war, einen Fehler zu machen, der weit über alles Praktische hinausging. Ich sehe noch heute, wie sie die Augenbrauen hob, als ich zögerte. Es wäre alles anders gekommen, wenn ich die Lektion begriffen hätte, die mir diese lebenskluge Frau an jenem Morgen in dem leeren Geschäft erteilte. Statt dessen sagte ich, und es muß fast entschuldigend geklungen haben: ›Ich will Lea überraschen‹. Dann zahlte ich die erste Miete für die Geige. ›Wenn irgend etwas ist, kommen Sie einfach mit Lea vorbei‹, sagte die Frau und gab mir ihre Karte.
Die Tatsache, daß sie von Lea mit Namen gesprochen hatte, hallte in mir nach. Als ich mit dem kleinen Geigenkasten aus dem Geschäft trat, hatte ich das Gefühl, noch nie etwas so Kostbares in Händen gehalten zu haben. Ich erschrak, als sich ein Passant an dem Kasten stieß, und hielt ihn für den Rest des Weges ängstlich vor die Brust.
In dieser Haltung betrat ich das Institut. Niemand schenkte der Geige die geringste Beachtung. Wie sollten die Mitarbeiter wissen können, daß sie das Symbol für Leas Wiedererweckung zum Leben war? Trotzdem – ich nahm es ihnen übel, daß sie zu dem kostbaren Gegenstand keine einzige Frage stellten und keine einzige Bemerkung machten, sondern stumm dasaßen und auf eine Erklärung für mein unentschuldbares Fehlen vom Vortag warteten. Dieses Schweigen machte sie zu meinen Gegnern.
Freiwillig würden sie von mir keine Erklärung und keine Entschuldigung hören. Das entschied ich, als ich in meinem Büro saß und über die Stadt hinweg auf die Alpenkette blickte. Die schneebedeckten, majestätischen Berge ragten in den gleichen tiefblauen Himmel hinein wie die hellgrünen Weiden, die ich gestern vor Leas Schule betrachtet hatte. Seitdem waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, und doch hatte sich die Welt verändert.
Vor mir lag eine Notiz meiner Sekretärin über einen Anruf des Rektors, der mich zu sich zitierte. Kurze Zeit später saß ich in einem chromblitzenden Universitätsbüro voller Elektronik und verwandelte mich in den renitenten Schüler zurück, der ich einst gewesen war, einen Schüler, der sich durch keine Drohungen einschüchtern ließ, der allen Warnungen zum Trotz während des Unterrichts das Taschenschach hervorholte und den man trotzdem nicht loswurde, weil er jeden Rückstand, in den er durch Schwänzen geriet, blitzschnell aufholte um bei den entscheidenden Klausuren doch wieder vorne zu liegen. Damals log ich wie gedruckt, und es war wie beim Schach: Man mußte den anderen stets einen Schritt voraus sein. Das würde ich auch jetzt sein, wenn es darum ging, Lea gegen die anderen zu verteidigen. Darauf konnten sie sich verlassen.
Der Rektor konnte nicht wissen, daß er einen Kollegen vor sich hatte, in dem der kaltblütig lügende Gassenjunge von einst wiedererwacht war. Ich glaube, er wunderte sich über die Kürze und Trockenheit meiner erfundenen Geschichte von Leas Unfall und darüber, wie wenig sie nach einer Entschuldigung klang. Aber er hatte keine andere Wahl, als mir zu glauben, und am Ende setzten wir einen Termin für ein neues Treffen mit den Geldgebern fest.
Mein Versäumnis geriet in Vergessenheit. Was blieb, war eine gewisse Kühle zwischen den Mitarbeitern und mir. Hin und wieder versuchte Ruth, mir am Zeug zu flicken; aber ich war auf der Hut und ihrer Ranküne stets einen Schritt voraus. Wie gesagt: Sie konnten sich darauf verlassen.«
6
»LEAS VERWANDLUNG glich einer lautlosen Explosion. Als sie am Abend jenes Tages vor dem Geigenkasten stand, den ich, bevor ich sie von der Schule abholte, offen auf ihr Bett gelegt hatte, gab es keine Ausrufe der Überraschung, keine Äußerungen des Entzückens, keine Luftsprünge, keinen Freudentaumel. Eigentlich geschah gar nichts. Lea nahm die Geige und begann zu spielen.
Natürlich war es nicht wirklich so. Aber wenn ich die atemberaubende Selbstverständlichkeit, mit der sie alles tat, was mit dem Instrument
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