Lea
gesprochen im kindlichen Tonfall ihrer hellen Stimme – ich werde sie bis ans Ende meines Lebens hören. Mit einem Schlag war mir klar, was in ihr geschehen war und was die Unruhe unseres sonderbaren, undurchsichtigen Gangs durch die Stadt hervorgerufen hatte: Sie hatte gespürt, daß sie das, was die Geigerin im märchenhaften Kostüm konnte, auch können wollte. Die Ziellosigkeit, von der ihre Trauer um die tote Mutter begleitet gewesen war, hatte ein Ende. Sie hatte wieder einen Willen ! Und was mich überglücklich machte: Ich konnte etwas tun . Die Zeit des hilflosen Zusehens war vorbei.
›Es gibt sehr teure Geigen, die sich nur reiche Leute leisten können‹, sagte ich, ›aber es gibt auch andere. Möchtest du eine haben?‹
Ich blieb im Wohnzimmer sitzen, bis ich Leas ruhigen Atem hörte. Und während ich dort saß, ereignete sich etwas, das meinem Gedächtnis später für lange Zeit entglitt, um an dem Tag wieder aufzutauchen, als Lea abgeholt und in die Klinik nach Saint-Rémy gebracht wurde, zum Maghrebiner, weit weg von der Schweiz und ihrer zudringlichen Presse. Die Empfindung, die sich damals im nächtlichen Wohnzimmer plötzlich Bahn brach, war das Gefühl, Cécile zu verlieren. So grausam es auch klingen mag: Es war Leas bleierne Trauer gewesen, die mir geholfen hatte, sie bei mir zu behalten. Die Mutter war in der Trauer der Tochter nachdrücklicher gegenwärtig gewesen als manchmal im Leben. An diesem Abend nun, nach einigen wenigen Stunden, in denen die Trauer in Lea begonnen hatte, einer neuen, zukunftsoffenen Gemütsverfassung zu weichen, begann auch Céciles Gegenwart zu verblassen. Darüber erschrak ich. Hatte meine Frau zuletzt nur noch als Leas Mutter Gegenwart besessen?
Ich stand auf, ging durch die Räume und berührte die Dinge, die an sie erinnerten. Am längsten blieb ich in ihrem Zimmer, das mit all den Figuren und bemalten Scherben einer Archäologin hätte gehören können. Doch das war nur Liebhaberei gewesen – ihre verträumte Seite, die man an ihr nicht vermutet hätte, wenn man sie als resolute Krankenschwester kannte. Lea und ich, wir hatten hier nichts angerührt seit ihrem Tod. Hinter verschlossener Tür war ein zeitloses Jahr verstrichen, in dem es keine Zukunft gegeben hatte, die von einer Gegenwart in die Vergangenheit hätte gedrängt werden können. Leas Frage nach der Geige bedrohte dieses Sanktuarium. So jedenfalls schien es mir, als ich wieder auf dem Sofa saß.
Ich sollte recht behalten: Nicht lange, nachdem sich die Wohnung mit noch unbeholfenen, kratzenden Geigentönen zu füllen begann, machten wir Céciles Zimmer zum Musikzimmer, la chambre de musique , wie Lea mit stolz und kokett gespitzten Lippen sagte. Wir richteten es hell und auf antiquierte Weise vornehm ein, es sollte an die französischen und russischen Salons erinnern, in denen begabte junge Musiker vor Adligen debütierten, deren steife und pompöse Kleidung – wie wir lachend sagten – an Loyola de Colóns Kostüm erinnerten. Es war wunderbar, auf diese Weise Leas Zukunft zu möblieren.
Doch manchmal lag ich wach, und es würgte mich Trauer darüber, daß Cécile mit jedem Fortschritt, den ihre Tochter mit der Geige machte, immer mehr Vergangenheit wurde, und in die Trauer mischte sich ein unvernünftiger, unsichtbarer Groll gegen Lea, die mir meine Frau wegnahm, ohne die ich viel früher schon entgleist wäre.
Lea war vom Schmerz im Fuß aufgewacht, ich erneuerte den Verband, und dann sprachen wir über das Konzert im Bahnhof. Da lernte ich, was ich in den folgenden Jahren stets von neuem lernen mußte, wie weh es auch tat: daß ich von vielem, und gerade dem Wichtigsten, das in meiner Tochter vorging, keine Ahnung hatte. Daß dasjenige, was ich zu wissen meinte, nur der Schatten war, den meine eigenen Vorstellungen auf sie warfen.
Lea nämlich hatte, während ich ihr eine beinahe mystische Versunkenheit angedichtet hatte, über ganz praktische Dinge nachgedacht: wie Loyola wissen konnte, wo sie Halt machen mußte, wenn sie mit der Hand den Geigenhals hinauf- und hinunterrutschte, und: warum der schmale Steg das Holz nicht eindrückte, wo darunter doch nur Hohlraum lag und die Saiten so fest angespannt waren. Wir lösten keines der beiden Rätsel. Über dem Klang der legendären Namen von Stradivari, Amati und Guarneri, die ich beisteuerte, als wir über Geigen im allgemeinen sprachen, schlief sie schließlich wieder ein. Damals waren es bloß strahlende mythische Namen. Wäre es nur
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