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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Eine geheimnisvolle, unerschöpfliche Kraft schien sie anzutreiben, und ihr aufs Pflaster gesenkter Blick hielt mich davon ab, mich nach dem Ziel zu erkundigen. Ein einziges Mal nur fragte ich: ›Wohin gehen wir?‹ Sie blickte mich nicht an, sondern sagte wie aus tiefster Konzentration heraus: ›Viens!‹ Es klang wie die Aufforderung von jemandem, der dem anderen das Wissen um etwas Großes voraushat, ohne es erklären zu wollen.
    Eine Flut von Gelegenheiten ging mir durch den Kopf, bei denen auch Cécile mit sanfter, bezwingender Ungeduld ein solches ›Viens!‹ zu mir gesagt hatte. Wie sehr hatte ich es am Anfang genossen, wenn sie es tat! Daß mich jemand an der Hand nahm und mit sich zog – wie ungewohnt und befreiend war es für einen Menschen gewesen, der als Schlüsselkind viel zu früh gezwungen wurde, sich in der Schule und auf der Gasse allein durchzuschlagen, verbissen in seine verschlagene Intelligenz, die das einzige war, dem er traute.
    Unser gespenstischer Spaziergang, der durch Leas ungeduldige Energie manchmal beinahe zum Marsch wurde, dauerte schon über eine Stunde, und als mein Blick eine Kirchturmuhr streifte, fiel mir siedend heiß die Sitzung ein, die ich hätte leiten sollen. Es war ein entscheidendes Treffen mit Geldgebern und der Universitätsleitung, die Zukunft meines Labors hing davon ab; undenkbar also, daß ich fehlte. Der Gedanke an die Mitarbeiter, die voller Ratlosigkeit fragende Blicke aushalten mußten, ließ mich aus meiner selbstverlorenen Gegenwart aufschrecken, die ausschließlich darin bestanden hatte, Leas Gefährte zu sein. Ich sah eine Telefonzelle und suchte in der Jackentasche nach Münzen. Doch dann spürte ich wieder Leas rätselhafte Energie neben mir, und nun traf ich eine Entscheidung, wie ich sie in den kommenden Jahren immer wieder treffen sollte: Ich räumte meiner Tochter Vorrang ein vor meinen beruflichen Verpflichtungen und verschloß die Augen vor den Konsequenzen, die von Mal zu Mal bedrohlicher wurden. Ihr Wille, wohin er uns beide auch treiben würde, galt mir mehr als alles andere. Ihr Leben war wichtiger als das meine. Davon weiß der Maghrebiner nichts. Nichts.
    Ich war hinter Lea zurückgefallen und holte sie jetzt wieder ein. Wir begannen, uns im Kreise zu drehen, und allmählich begriff ich, daß sie gar kein Ziel hatte, oder besser: daß ihr Ziel keines war, das man erlaufen konnte. Sie ging neben mir her, als ob sie eigentlich ganz woanders hingehen möchte, aber nicht wisse, wohin, und mehr noch: als ob sie sich lieber in einem ganz anderen, bedeutungsvolleren Raum bewegt hätte als dem, den die Altstadt Berns zur Verfügung stellte.
    Jetzt kamen wir an der Musikalienhandlung Krompholz vorbei. Lea – das verwundert mich heute noch – warf keinen einzigen Blick in das Schaufenster, wo stets einige Geigen ausgestellt waren. Achtlos ging sie daran vorbei, obgleich sich, wie ich bald danach erfahren sollte, in ihrer Seele etwas vorbereitete, das solchen Instrumenten eine lebensbestimmende Bedeutung zumessen würde. Mein eigener Blick streifte die Geigen und brachte sie mit der Frau vom Bahnhof in Verbindung – auf die Art und Weise, wie sich unsere Vorstellungen gewöhnlich verbinden. Noch hatte ich keine Ahnung, was Geigen für unser beider Leben bedeuten würden. Daß sie alles verändern würden.
    Mit einemmal dann schien alle Energie aus Lea zu weichen. Der Schmerz im Fußgelenk mußte immer stärker geworden sein, und wenn sie mich vorher in stummer, diktatorischer Bestimmtheit angetrieben hatte, so war sie jetzt nur noch ein müdes kleines Mädchen, dem der Fuß weh tat und das nach Hause wollte.
    Es war anders als sonst, in die Wohnung zu kommen. Ein bißchen ging es mir wie nach einer langen Reise: Es überraschte mich, was da alles an Möbeln stand, ihre Zweckmäßigkeit schien mir zweifelhaft, das sorgfältig ausgeklügelte Licht der vielen Lampen paßte plötzlich nicht mehr zu meinen Erwartungen, und es roch nach Staub und abgestandener Luft. Die vielen Dinge, die an Cécile erinnerten, schienen wie durch einen unmerklichen Stoß ein Stück weiter in die Vergangenheit gerückt worden zu sein. Ich machte Lea einen Druckverband um das angeschwollene Gelenk. Sie aß nichts, stocherte mit abwesendem Blick in dem Reis mit Safran, ihrem Lieblingsgericht. Dann, auf einmal, hob sie den Blick und sah mich an, wie man jemanden anblickt, den man gleich etwas Lebenswichtiges fragen wird.
    ›Ist eine Geige teuer?‹
    Diese vier Worte,

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