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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Dieser schwarze, versiegelte Blick, diese ärztliche Selbstgefälligkeit. Er hätte ihm die Fresse polieren mögen.
    Er meldete sich krank und ging eine Woche lang nicht ins Institut. Mochten sie alle den Brief lesen, das war jetzt auch egal.
    In diesen Tagen räumte er die Wohnung auf, nahm jeden Gegenstand in die Hand. Er holte das Foto hervor, das Céciles Zimmer zeigte, bevor sie daraus la chambre de musique gemacht hatten. Die Vergangenheit, die ihm da entgegenkam, traf ihn mit unerwarteter Wucht. Zum ersten Mal fragte er sich, was Cécile über den Betrug gedacht hätte. Martijn, der romantische Zyniker! Ich dachte nicht, daß es das wirklich gibt ! Und nun war er durch halb Europa gefahren, nicht zu der geliebten Frau, sondern mit der kranken Tochter neben sich. Im Motel hatten sie getan, als sei sie seine Geliebte. Als er neben ihr aufwachte, zerschlagener noch als vorher, hatte sie ruhig geatmet, doch die Lider hatten unruhig gezuckt. »Wo sind wir denn«, hatte sie gesagt, »warum hat mir die Agentur kein besseres Zimmer besorgt, sonst habe ich doch eine Suite.«
    Leas Zimmer war das letzte, das er aufräumte. Er hatte es gemieden. Jetzt nahm er auch hier alles in die Hand, wie zum letzten Mal. Schichten ihrer Lebensgeschichte. Stofftiere, die ersten Zeichnungen, Schulzeugnisse. Ein Tagebuch mit Schloß. Er fand den Schüssel. Er entschied sich dagegen, schob das Buch in der Schublade ganz nach hinten. Der Maghrebiner hatte nach so etwas gefragt. »Absolument pas« , hatte er gesagt.
    LEAH LÉVY . Er warf das Notizbuch weg. Berge von Portraits, sie war in letzter Zeit viel fotografiert worden. Er setzte sich mit den Bildern an den Küchentisch. LEA VAN VLIET . Hinter der Fassade hatte es zu bröckeln begonnen, lautlos und unaufhaltsam. Er holte Bilder von früher und maß den Abstand. Das eine hatte er kurz nach Loyolas Auftritt im Bahnhof gemacht. Lea sah darauf aus, wie sie ausgesehen hatte, als sie ihn stumm durch die Stadt zog, getrieben von jenem neuen Willen, der nachher in die Frage mündete: Ist eine Geige teuer? Die meisten Bilder von Lea, der glanzvollen Geigerin, warf er weg. Er verstand nicht, warum, aber er schloß Leas Zimmer ab und tat den Schlüssel in den Küchenschrank, hinter das selten gebrauchte Geschirr.
    Als er entschieden hatte, was er tun würde, bat er Caroline zu sich. Sie atmete schwer und schloß manchmal die Augen, während er erzählte. Irgend jemand würde sich um die Wohnung kümmern müssen, sagte er. Sie nickte und streichelte Nikki. »Du kommst mit mir«, sagte sie. Tränen standen ihr in den Augen. »Sie darf es nie erfahren«, sagte sie. Er nickte.
    Er spürte, daß sie ihm noch etwas sagen wollte. Etwas, das sich nur Freundinnen sagen. Er hatte Angst davor.
    Es habe diesen Jungen gegeben, Simon, zwei Klassen über ihr, trotz Zigaretten bester Sportler seines Jahrgangs, ein Angeber, James Dean im Westentaschenformat, aber der Schwarm vieler Mädchen.
    Van Vliet spürte Panik. Ob er, der Vater, im Wege gestanden habe. Er hing an ihren Lippen.
    Da nahm Caroline, die mehr als dreißig Jahre jünger war als er, seine Hand.
    »Aber nein«, sagte sie, »aber nein. Doch nicht Sie. Es war ihre Unberührbarkeit, um es so zu sagen. Die Aura ihrer Begabung und ihres Erfolgs. Ob im Klassenzimmer oder in der Pause: Es gab immer diesen kühlen Lichtschein um sie herum. Ein bißchen Neid, ein bißchen Angst, ein bißchen Unverständnis, alles zusammen. Sie wußte nicht, wie sie aus diesem Lichtschein hätte hinaustreten können, hinaus zu Simon zum Beispiel. Der Schein folgte ihr wie ein Schatten. Und Simon – er sah sie nie an, sah ihr aber nach, es gab Gekicher. Aber selbst für ihn, den Hahn im Korb, war sie außer Reichweite, einfach zu weit weg. ›Weißt du‹, sagte sie, ›manchmal wünschte ich mir, der ganze Glitter und Glamour verschwände über Nacht; damit die anderen ganz normal zu mir wären, ganz normal.‹«
    Van Vliet zögerte. Und Lévy? fragte er schließlich.
    »Davíd – das war etwas anderes, etwas ganz anderes. Ich weiß nicht, es war der Griff nach den Sternen.«
    Simon und Lévy?
    »Hatten in ihr nichts miteinander zu tun. Das waren zwei Welten, würde ich sagen.«
    Noch etwas wollte Van Vliet wissen, etwas, das er sich seit langem fragte.
    »Erst war die Musik mit Marie verbunden, dann mit Lévy. Immer hatte sie zu tun mit … mit Liebe. Mochte Lea die Musik eigentlich auch so, ich meine: um ihrer selbst willen?«
    Das hatte sich Caroline noch nie gefragt.

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