Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
»Das weiß ich nicht«, sagte sie, »nein, das weiß ich einfach nicht. Manchmal … nein, keine Ahnung.«
    Noch einmal blickte sie vor sich hin, als wolle sie ihm etwas über Lea sagen, das er nicht wissen konnte. Doch dann sah sie ihn an und sagte etwas, das Van Vliet, denke ich, vieles erspart hat: »Ich frage Papa, ob er Ihre Verteidigung übernimmt. Gerade in solchen Fällen ist er gut, sehr gut.«
    Zum Abschied umarmte er sie und hielt sie einen Moment zu lange, als sei sie Lea. Caroline wischte sich die Tränen aus den Augen, als sie hinausging.
    Am nächsten Morgen ging er zur Staatsanwaltschaft.
30
    VON DER UNTERSUCHUNG und dem Prozeß hat er nicht viel erzählt. Zwischen den sparsamen Sätzen warf er den Schwänen Brotkrumen zu. Ein Mann wie er auf der Anklagebank: Da gab es nicht viel zu erklären. Während er die Krumen warf, hatte ich das Gefühl: Er paßt auf, daß er nicht in den Sog der Erinnerung gerät; daß er unbeschadet darüber hinweggleitet.
    Dem Untersuchungsrichter, der die Glaubwürdigkeit des Geständnisses zu prüfen hatte, machten zwei Dinge zu schaffen: das Motiv und der Umstand, daß weder die Geige noch eine Quittung für den Kauf vorgelegt werden konnten. »Es gab Momente, da sah er mich mit einem Blick an, als sei ich ein Irrer oder ein dreister Lügner.« Lange weigerte sich Van Vliet, die Überreste der Geige herauszurücken. Was er nicht erzählte, auch vor Gericht nicht, war die wahre Geschichte ihrer Vernichtung. Er selbst sei im Dunkeln darauf getreten – mehr war ihm nicht zu entlocken.
    Ich sehe dich im Gerichtssaal sitzen, Martijn – ein Mann, der der Welt sein Schweigen entgegenhalten konnte wie eine Mauer.
    Der Untersuchungsrichter wollte Lea vernehmen. Da muß Van Vliet die Fassung verloren haben. Dr. Meridjen schrieb ein Gutachten. Van Vliet träumte, der Arzt habe Lea davon erzählt. Danach saß er auf der Bettkante und hämmerte sich mit den Fäusten die Einsicht in den Kopf, daß kein Arzt so etwas tun würde, keiner.
    Carolines Vater erreichte ein mildes Urteil, auch weil Van Vliet sich gestellt hatte. Achtzehn Monate auf Bewährung. Der Richterin muß es leichter gefallen sein, das Motiv zu verstehen. Zu ihrer Aufgabe – muß sie gesagt haben – gehöre es zu beurteilen, wie schwer es für ihn gewesen wäre, nicht zu tun, was er getan habe. Van Vliet sagte ein einziges Wort: unmöglich .
    Irgendwann muß das Stichwort einer psychiatrischen Begutachtung gefallen sein. Die beiden Wörter klangen heiser, als Van Vliet davon sprach. Eine gefährliche Heiserkeit. Danach schob er stumm die Lippen vor und zurück, vor und zurück. Für eine Weile vergaß er, die Brotkrumen zu den Schwänen zu werfen und zerbröselte sie zwischen den Fingern.
    Natürlich verlor er die Professur. Die Geldgeber erreichten, daß die Bezüge, die ihm blieben, gepfändet wurden. Was man ihm ließ, reichte für die Zweizimmerwohnung, in der er jetzt lebte, und auch das Auto konnte er behalten. Carolines Vater half ihm im Kampf mit der Versicherung. Am Ende erreichte er, daß sie die Kosten für Leas Aufenthalt in Saint-Rémy übernahm.
    Die Zeitungen schrieben in großen Lettern, an jeder Ecke kamen sie ihm entgegen, fett und brutal. Er lief im Traum durch die Stadt und kaufte alle Exemplare auf, damit Lea keines zu sehen bekäme.
    »In jener Zeit habe ich gegen den Alten in Cremona gespielt, wieder und wieder. Endlich fand ich eine Lösung. Das Problem war: Ich nehme kein Opfer an, halte jedes Gambit von vornherein für eine Falle, über die man gar nicht weiter nachdenken muß. So war es auch damals. Ich hätte den verdammten Läufer nehmen sollen, der Alte hatte sich verrechnet, und ich entdeckte auch, warum. Ich hätte ihn mit dem Bauern schlagen sollen. Jetzt zog ich den Bauern hinüber und dachte: Diese eine Bewegung, zwei, drei Zentimeter – und ich stünde nicht vor Gericht.
    Mutter pflegte zu lachen, wenn Vater bei heftigen Selbstvorwürfen davon sprach, daß er sich hintersinnen könnte; sie fand den Ausdruck zu komisch. Jetzt fiel er mir ein, der Ausdruck: Manchmal hatte ich vor Ärger über mich selbst tatsächlich den Eindruck, fast den Verstand zu verlieren. Am schlimmsten war es, wenn ich mir sagte: Du hast es im Grunde gar nicht für Lea getan, sondern für dich selbst, du bist zu dem Alten gefahren, weil du dir in der Rolle des Hasardeurs gefallen hast, aus Selbstverliebtheit also.«
    Er wolle ein paar Schritte allein gehen, sagte er und sah mich entschuldigend an. Ich

Weitere Kostenlose Bücher