Lea
hinaufgegangen, bonne nuit , hatte Lea gesagt, das sagte sie auf Reisen immer.
Der Junge mit dem lächerlichen Scheitel und der häßlichen Brille war, wie man ihm erzählte, stundenlang auf dem Boden herumgekrochen und hatte nach jedem Splitter Ausschau gehalten, auch nach den kleinsten, die zwischen den Fäden des Teppichs verschwunden waren. Er hatte den Gedanken, daß eine Geige von Guarneri del Gesù unwiderruflich zerstört war, schlechterdings nicht ausgehalten.
Ab und zu warf Van Vliet einen Blick auf die Rückbank: Die Trümmer hatten nicht recht in den Geigenkasten gepaßt und lagen in einer großen Plastiktüte daneben. Auf Rastplätzen fiel sein Blick regelmäßig auf die Müllcontainer. Der Name eines Stockholmer Kaufhauses war auf der Tüte. Diese Spur mußte verschwinden. Doch es war unmöglich. Signor Buio war mit seiner knochigen, von Altersflecken übersäten Hand über die Geige gefahren, bevor er den Deckel schloß und Van Vliet den schäbigen Kasten zuschob. Ecco!
»Le violon« , murmelte Lea manchmal, halb im Schlaf. Dann fuhr er ihr mit der Hand stumm über Schulter und Arm. Seit der Katastrophe war es ihm nicht gelungen, sie zu umarmen, nicht einmal übers Haar war er ihr gefahren. Dabei sehnte er sich danach und war verzweifelt über die Lähmung, die es verbot. Als er ihr in der Nacht den Schweiß von der Stirn gewischt hatte, war es die Bewegung eines Krankenpflegers gewesen. Einmal hatte er sich zu ihr hinuntergebeugt, um sie auf die Stirn zu küssen. Er hatte es nicht geschafft.
Als er gegen Morgen eindöste, suchte ihn ein Traumbild heim, das er bis heute nicht losgeworden war: Der Junge vom Hotelempfang versuchte vergeblich, die aufgespießte Geige vom Treppenpfosten zu lösen. Er zog und zerrte und drehte, es knarrte und knirschte und splitterte. Er schaffte es nicht, er schaffte es einfach nicht.
Lange hatte er an der Reling der Fähre gestanden und in die Nacht hinaus geblickt, bevor er zum Telefon griff und seine Schwester Agnetha anrief. Drei Tage waren wir nun zusammen, drei lange Tage des Erzählens, in denen wir durch dreizehn Jahre geglitten waren, und er hatte die Schwester mit keinem Wort erwähnt, stets hatte es geklungen, als sei er Einzelkind gewesen.
»Warum, verdammt, muß sie ausgerechnet diesen schwedischen Namen haben! Die Leute sagten: ABBA ! Dabei gab es die Gruppe 1955 noch gar nicht. Es war eine Modefee in einer Illustrierten, die Mutter auf die Idee brachte, sie war süchtig nach Illustriertenklatsch. ›Stell dir vor: nicht Agnes und nicht Agatha, nein: Agnetha !‹ sagte sie.
Das war, bevor die Ehe zerbrach und die Liebe aus den Sternen in den Staub stürzte. Wenn der Vater die Episode später erzählte, nahm er die gichtverformte Hand der Mutter, und dann konnte man spüren, daß es die Sterne einmal gegeben hatte. Und deshalb lag immer ein Schimmer Sternenlicht auf Agnetha, ein bißchen Goldstaub, als hätte sie eine feine, unsichtbare Goldsträhne im Haar. Dabei ist nichts Strahlendes an ihr, sie war stets eher ein braves, phantasieloses, fleißiges Mädchen, das meinen Anarchismus und meine Maßlosigkeit nicht mochte. ›Du bist eine Dampfwalze‹, sagte sie. Natürlich hielt sie mich für einen unfähigen Vater, so daß ich ihr das Gegenteil beweisen wollte.
Deshalb war es schwer, sie jetzt anzurufen. Von der Geige sagte ich nichts. Zusammenbruch – das genügte.
›Dr. Meridjen‹, sagte sie sofort, ›wir müssen Lea außer Landes bringen, weg von der Presse, er ist gut, sehr gut, und die Klinik hat einen ausgezeichneten Ruf, außerdem ist sie dann in der französischen Sprache, der Sprache von Cécile, ich denke, das ist wichtig.‹
Sie ist klinische Psychologin und hat mit dem Maghrebiner in Montpellier gearbeitet, sie hat ihn immer bewundert, vielleicht auch mehr.
Sie hatte sich gut in der Gewalt, als sie Lea sah, doch sie war erschrocken. Sie ließ sich die Medikamente des schwedischen Arztes zeigen und schüttelte ärgerlich den Kopf. Ich hatte sie seit Jahren nicht gesehen, meine Schwester, und war erstaunt über die Reife und Kompetenz, die aus allem sprach. Sie wollte alles wissen. Ich sagte nur, daß es eine wertvolle Geige gewesen sei.
Lea schlief, wir saßen in der Küche. Agnetha sah meine Erschöpfung nach der langen Fahrt; ein paar Stunden in einem Motel war alles gewesen.
›Verstehst du es?‹ fragte sie.
›Was wissen wir von diesen Dingen schon!‹ sagte ich.
›Ja‹, sagte sie. Dann trat sie hinter mich, ihren Bruder,
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