Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
wußte: Danach kam das Schwerste.
31
    »ALS KLEINES KIND war Lea beeindruckt von den braunen Glasbehältern mit den handgeschriebenen Etiketts, die in der Apotheke auf den Regalen standen. Sie zeichnete die Gläser sogar, sie müssen für sie eine geheimnisvolle Anziehungskraft gehabt haben; vielleicht, weil man hinter dem dunklen Glas helles Pulver sah, das wie versteckt wirkte, vielversprechend oder auch gefährlich. Später einmal sah sie, wie Cécile im Krankenhaus den Schrank mit den besonderen Medikamenten abschloß. ›Das ist der Giftschrank‹, erklärte Cécile. Das Wort muß Lea sehr beeindruckt haben, denn beim Abendessen fragte sie: ›Warum braucht man im Krankenhaus Gift?‹
    Daran dachte ich, als ich von ihrem Tod erfuhr. Sie hat es während der Nachtschicht getan.«
    Vor einem Jahr war sie aus Saint-Rémy zurückgekommen. Sie hatte nicht ihn angerufen, sondern Agnetha. Das hatte weh getan; auf der anderen Seite war er auch froh, daß sie seine schäbige Wohnung nicht sah. Er hatte sich dafür mehrere Erklärungen zurechtgelegt, wenn er wach lag. Keine klang glaubwürdig. Doch von selbst würde sie nicht auf die Wahrheit kommen. Mit Entsetzen stellte er fest, daß er sich vor der Begegnung mit seiner Tochter fürchtete.
    Sie begann eine Lehre als Krankenschwester und wohnte im Schwesternheim. Das lag am anderen Ende der Stadt. Er lebte in der Stadt, in der auch seine Tochter lebte, und noch immer hatte er sie nicht gesehen. Agnetha gab ihm die Nummer. »Ich würde warten, bis sie sich meldet«, sagte sie.
    Aus Angst, ihr zu begegnen, traute er sich in den ersten Wochen nicht ins Zentrum. »Ich habe gelebt, als drückte mich etwas nach innen, ich glaube, ich atmete nur noch ganz flach. Wie einer, der sich seines bloßen Daseins schämt. Erst langsam wurde mir klar: Die Scham wegen Betrug und Verurteilung hatte sich hinter meinem Rücken in eine Empfindung der Schuld Lea gegenüber verwandelt. Aber es gab doch keine solche Schuld!
    Ich wurde wütend: auf den Maghrebiner, der ihr wer weiß was eingeredet hatte; auf Agnetha wegen ihrer Bemerkung; sogar auf Caroline, die es besser fand, Lea den Hund nicht zurückzugeben. Und ich wurde wütend auf Lea, mit jedem Tag mehr. Warum, verdammtnochmal, meldete sie sich nicht? Warum verhielt sie sich, als hätte ich ihr etwas angetan?«
    Es war im vergangenen Herbst, daß sie sich schließlich begegneten. Ein warmer Tag, die Leute waren leger gekleidet. Deshalb fiel ihm als erstes ihr steifes, keusches Kostüm auf, darüber ein Kopf mit strenger Frisur. Er erkannte sie erst mit Verzögerung. Es stockte ihm der Atem: Seit er sie in Saint-Rémy das letzte Mal durch das Fernglas beobachtet hatte, waren keine zwei Jahre vergangen, und sie sah aus, als sei mindestens die doppelte Zeit verstrichen. Klare Augen hinter einer randlosen Brille, die ganze Erscheinung nicht ohne Eleganz, aber unnahbar, schrecklich unnahbar.
    Langsam gingen sie die letzten Schritte aufeinander zu. Sie gaben sich die Hand. »Papa«, sagte sie. »Lea«, sagte er.
    Van Vliet trat ans Ufer, schöpfte eine Handvoll Wasser und ließ es übers Gesicht laufen.
    Ich spürte, wie ich zusammensank. Ich wollte nichts mehr von diesem Unglück hören. Ich hatte keine Kraft mehr.
    Sie waren zusammen auf die Münsterterrasse hinausgetreten und hatten eine Weile schweigend nebeneinander gestanden.
    »Ich kann das nie mehr wiedergutmachen«, sagte sie auf einmal.
    Ein Stein fiel ihm vom Herzen, das erste Mal seit Monaten konnte er tief Atem holen. Deshalb , nur deshalb hatte sie ihn gemieden. Und sie wußte nichts von Betrug und Verurteilung, sie sprach nur von der Geige. Er wollte sie umarmen, stockte, bevor es dazu kam. Ihre Stimme hatte wie immer geklungen. Doch sonst kam sie ihm fremd vor; nicht abweisend, auch nicht kalt, eher welk; wie jemand, der auf Sparflamme lebt.
    »Es ist doch in Ordnung«, sagte er, »alles ist doch ganz in Ordnung.«
    Sie sah ihn an wie jemanden, der zur Beruhigung etwas Bemühtes, Unglaubwürdiges gesagt hat.
    Auf einer Bank sitzend gelang ihnen dann noch ein kurzes Gespräch darüber, wo und wie sie jetzt wohnten. Er muß gelogen haben.
    Ob die Zeitungen damals etwas gebracht hätten, fragte sie. Es freute ihn, denn es zeigte, daß sie zurück war in der wirklichen Welt und der wirklichen Zeit. Er schüttelte den Kopf.
    »Stockholm«, sagte sie, und nach einer Weile: »Danach Dunkel, vollständiges Dunkel.«
    Er nahm ihre Hand. Sie ließ es geschehen. Später spürte er ihren

Weitere Kostenlose Bücher