Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
Nappaleder zur Hand, die sie vor zwei Jahren von ihrem Vater zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte. Sie wirkte unter den sonst auf dem Tisch liegenden billigen Kunstledermappen und Notizblöcken mit Werbeaufdruck reichlich deplatziert. Während sie weitersprach, blätterte sie in ihren Notizen.
»Bei allen Einbrüchen zuvor waren die Häuser leer, die Bewohner entweder im Urlaub oder für den Abend ausgegangen. Vorgestern befand sich der siebenundachtzigjährige Vater des Eigentümers im Haus. Er überraschte die Täter, die ihn daraufhin brutal niederschlugen.«
Sie hatte gestern ausführlich mit Wagner über diese veränderte Situation gesprochen, mit dem sie seit Alexanders Rückzug am liebsten zusammenarbeitete, trotz seines brummigen Gemüts. Mit ihm kam sie allemal besser zurecht als mit Gerth. In der Tat hatte die Einbruchsserie eine neue Richtung bekommen. Der alte Mann lag schwer verletzt im Krankenhaus. Der Druck auf die Ermittler war deutlich größer geworden. Jetzt zog nicht mehr nur eine Bande von Einbrechern durch das nobelste Konstanzer Wohnviertel und räumte Villen aus. Jetzt hatten sie einen wehrlosen, alten Mann bewusstlos geschlagen, und es stand nicht fest, ob er überlebte. Der Südkurier schrieb schon von einer »neuen Qualität der Kriminalität in der größten Stadt am Bodensee«. Vor allem der Polizeipräsident Schober, der erst ein halbes Jahr im Amt war, stand unter besonderer Beobachtung. Es musste ein schneller Fahndungserfolg her, koste es, was es wolle. Deshalb die bis auf Widerruf geltende Urlaubssperre für alle Mitarbeiter des Kriminalkommissariats 1, die für viel Unmut sorgte. Normalerweise konnte man sich nach den Fastnachtstagen ein bisschen Erholung gönnen – damit wurde es diesmal nichts.
»Gibt es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?« Stephanie Bohlmann hatte bisher schweigend am äußersten Rand des Tisches gesessen. Sie hatte erst vor einigen Monaten die Polizeihochschule beendet und war nicht nur das Küken des Kommissariats, sondern auch seine graue Maus. Vermutlich setzte sie sich immer weit entfernt von Bettina, damit ihre Unscheinbarkeit nicht auffiel. Obwohl Bohlmann fünfzehn Jahre jünger war, konnte sie ihr sowohl vom Aussehen wie vom Auftreten und Stil nicht das Wasser reichen. Dabei hätte Bettina sie gerne unter ihre Fittiche genommen, denn sie spürte, dass in ihr viel mehr steckte, als sie nach außen zeigte.
Gerth hatte vor einer Stunde mit der Ärztin gesprochen, die den alten Mann betreute. Er war in ein künstliches Koma versetzt worden, und es bestand Hoffnung, dass er sich erholte.
»In dem Alter weiß man das nie«, brummte Wagner.
»Wenn es nichts Neues gibt, können wir wieder an die Arbeit gehen. Auf meiner Liste stehen noch acht Anwohner der Mozartstraße.«
Frank Auer hatte sich bisher zurückgehalten, was sonst nicht seine Art war. Jetzt erhob er sich, ohne auf Gerths Zustimmung zu warten, zwinkerte Bettina zu und machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
Um seine Autorität in dieser Situation zu retten, stand auch Gerth auf und sagte: »Es ist alles besprochen. An die Arbeit.«
***
Thal fröstelte, als er die Wohnungstür aufschloss. Der Nebel hatte sich verzogen, und die Sonne erhellte die Wohnung, trotzdem war es kalt. Von der Diele aus sah er in einem Lichtstrahl, der sich quer durch das Wohnzimmer zog, tanzende Staubkörnchen. Wann war zuletzt geputzt worden? Thal hatte sich bisher keine Gedanken darüber gemacht, dass Tamara, die zwei Mal in der Woche wie der sprichwörtliche Putzteufel durch die Wohnung fegte, nach Leahs Tod nicht mehr gekommen war. Vermutlich hielt sie ausschließlich Leah für ihre Arbeitgeberin, und im Grunde hatte sie recht. Thal sah sie selten, denn er verließ das Haus, bevor sie zur Arbeit kam. Außerdem sprach die Ukrainerin kaum Deutsch, und er hatte es aufgegeben, eine Konversation zu versuchen.
Er stellte die Einkaufstasche in die Küche und ging zurück in die Diele, um seinen Mantel aufzuhängen. Er griff in die Manteltasche und holte den Brief heraus, den er vor einer Stunde aus dem Briefkasten genommen hatte. Zusammen mit dem Attest, das ihm zwei weitere Wochen Zeit zum Trauern und Nachdenken verschaffte, legte er ihn auf das schlichte Sideboard. Er überlegte, das Attest persönlich ins Präsidium zu bringen. Unmittelbar nach Leahs Tod hatte Bettina Berg zunächst fast täglich, später seltener versucht, ihn anzurufen. Er wollte mit niemandem sprechen. Mehrmals stand sie vor
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