Leahs Vermächtnis (Berg und Thal Krimi) (German Edition)
dem Haus, er öffnete aber nicht.
Thal wusste, dass Bettina sich um ihn sorgte. Es tat ihm leid, sie abgewiesen zu haben. Er konnte nicht anders. Er hatte das Wichtigste in seinem Leben verloren. Nein! Er hatte sein ganzes Leben verloren. Niemand konnte ihn trösten, doch alle würden es versuchen. Er ertrug das nicht.
Wenn er das Attest persönlich ins Präsidium brächte, würde er sie beruhigen – hoffte er wenigstens.
Thal ging in die Küche und packte die Tasche aus. So viel hatte er in den vergangenen drei Monaten nie eingekauft. Er verspürte oft tagelang keinen Hunger und aß fast nichts anderes als Brot und Käse. Seit er mit dem Saufen aufgehört hatte, musste er keine Flaschen mehr die Treppen hinaufschleppen, denn er trank fast ausschließlich Tee. Nur seinen wöchentlichen Besuch in der Kaffeerösterei versäumte er nicht ein einziges Mal. Als wäre diese spezielle Arabica-Mischung der dünne Faden, der ihn mit seinem früheren Leben verband. Thal bereitete sich seinen zweiten Espresso zu. Diese Sucht würde er nie überwinden - ach was, er wollte es nicht. Mit der kleinen Tasse in der Hand ging er Richtung Wohnzimmer. Unterwegs nahm er den Briefumschlag vom Sideboard. Auf der Couch lag noch sein Bettzeug, deshalb setzte er sich in den breiten Ledersessel am Fenster, nahm den ersten Schluck des Kaffees und schloss die Augen. Das Koffein würde hoffentlich die Müdigkeit vertreiben, die schon wieder in ihm aufkam. Mit einem zweiten Schluck leerte er die Tasse und stellte sie auf den niedrigen, auf gebürsteten Chromfüßen stehenden Glastisch. Alles in diesem Raum war perfekt. Jedes einzelne Möbelstück hatte Leah ausgesucht. Bei den meisten handelte es sich um Einzelstücke nach ihren eigenen Ideen oder den Entwürfen von Freunden. Zu jedem konnte sie eine Geschichte erzählen. Thal schluckte. Die Trauer traf ihn erneut wie ein Schlag. Alles in seinem Leben stand mit Leah in Verbindung. Außer seiner Arbeit. Aber das war vorbei. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Womöglich würde es ihm guttun, die tröstenden Worte eines mitfühlenden Menschen zu lesen, der erst jetzt von Leahs Tod erfahren hatte.
Als Thal den Briefumschlag mit dem Zeigefinger aufriss, fiel ein kleines Plastikstück zu Boden. Ansonsten war der Umschlag leer. Thal drehte ihn um. Nichts. Kein Absender. Seine Adresse war maschinell auf ein Etikett gedruckt, das penibel aufgeklebt war. Soweit das mit bloßem Auge erkennbar war, schienen die Abstände zum rechten und unteren Rand exakt gleich zu sein. Ein Pedant, dachte Thal und bückte sich nach dem winzigen Teil. Es handelte sich um einen Speicherchip, wie er in digitalen Fotokameras verwendet wurde. Merkwürdige Idee, einen Brief auf einen Chip zu speichern statt auszudrucken. Einen Trauerbrief zumal, obwohl ... Der Umschlag war schlicht und wies nicht das typische schwarze Band der meisten Beileidsbriefe auf, die sich in der Silberschale auf der Konsole neben dem Sofa stapelten. Nur Leahs Künstlerfreunde und Kollegen an der Münchener Kunstakademie waren kreativer gewesen und hatten sich zumindest für andersfarbige Trauerränder entschieden.
Thal ging zu Leahs Arbeitsplatz. Vor einem Jahr hatte sie den Computer gekauft, der nur aus einem großen, berührungsempfindlichen Bildschirm bestand. Er hatte sich nicht vorstellen können, ein technisches Gerät im Wohnzimmer zu haben. Bis dahin hatte der alte Computer in dem kleinen, vor allem als Gästezimmer genutzten Raum gestanden, von dem man über eine Klapptreppe den größten Luxus dieser Wohnung erreichte: die ihnen allein gehörende, fast sechzig Quadratmeter große Dachterrasse.
Leah hatte seine Bedenken mit einem Lachen beiseitegewischt. »Was bist du für ein altmodischer Knochen. Computer sind ein wichtiger Teil des Lebens, also gehören sie in die Mitte der Wohnung.«
Seine Bedenken waren unbegründet gewesen. Der Computer war, wie konnte es bei Leah anders sein, ein edles Designerstück. Mit seinem weißen Rahmen und der matten Oberfläche wirkte er eher wie ein Kunstwerk. Dabei war er ein technisches Meisterwerk, das intuitiv zu bedienen war. Selbst Thal kam damit ohne Schwierigkeiten zurecht.
Nach wenigen Sekunden startete der Rechner. Auf dem Bildschirm erschien ein Bild, das Thal erstarren ließ. Es sah aus, als klebte dort ein gelber Notizzettel. Darauf stand in Leahs schöner Handschrift: »Hallo Liebling! Mach Dir keine Sorgen, ich werde heute länger arbeiten. Gebhard will noch
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