Lebe deine eigene Melodie
Erlebnis, sich selbst singen zu hören, relativiert jedes Leid, weil man kaum anders kann, als zu lachen. Fast jeder fühlt sich schon nach etwas Singen körperlich und seelisch besser. Singen kann man immer, auch im hohen Alter, selbst wenn die Stimme etwas dünner wird. Der Tenor Luciano Pavarotti erzählte in einem Interview von seinem Vater, der sogar im Alter von 89 Jahren noch sang. Singen hellt den Tag auf und macht die Nacht freundlicher gestimmt. Wir sind nicht allein, wenn wir uns selbst Mut ansingen. Wer bei der Arbeit singt, zeigt Vergnügen an der Arbeit, Kompetenz und ein wenig Anarchie, weil man tut, was man tun will – und das sogar mit Vergnügen.
Unsere Lieder gehören zu uns, sie sind ein Teil dessen, was uns zu Schwestern und Brüdern macht. Im Alter, wenn sich die Reihen immer mehr lichten, sind sie unser gemeinsamer Schatz, unabhängig von Hautfarbe, Schicht, Beruf, Intelligenz, Geschmack. Andere Erinnerungen – die Konfirmation, die Hochzeit, das erste Rendez-vous – verblassen, aber unsere Lieder bleiben, weil unsere Ohren ein Elefantengedächtnis haben. Egal wie alt wir sind, wenn der Beatles-Song »When I’m sixty-four« ertönt, dann reichen wir wie ältere Ehepaare einander die Hände und schmelzen: »Darling, they are playing our tune«.
Es lohnt sich, ein paar Lieder im Handgepäck zu tragen. Sie brauchen weder viel Platz noch Arbeit und bleiben immer frisch, weil sie in unsere Seele unauslöschlich eingraviert sind. Und unsere Zeitgenossen werden aufhorchen und mit einstimmen, so lange unsere Stimmen noch tragen: »Will you still feed me, when I’m sixty-four?«.
Gehen
Wenn es uns gut gehen soll, dann müssen wir gehen. Freiwillig und freudig sollte es geschehen, offen für alle möglichen Ziele, absichtslos ohne vorzeigbare Zwecke. Was ist Älterwerden letztlich anderes als ein Gehen durch die Zeit? Würde besteht im Recht auf den eigenen Gang und den eigenen Rhythmus. Im Gehen erfahren wir, die Zeit gehört nicht den Uhren. Sie gehört uns, unseren Gedanken, die alles dürfen, unseren Gefühlen, die unaufhörlich wandern, unserer Lust, die unbändig sein darf. Endlich keine Anforderungen, kein Befehl, kein fremd gesteuerter Gehorsam, sondern eigenes Zeitmaß. Eigenzeit, die wir für unser Sein brauchen. Sich nicht ablenken lassen, sich faszinieren lassen, sich bewegen lassen, das hieße ein erotisches Verhältnis zur Welt einzugehen, das sich nicht mit Nichtigkeiten zufrieden gibt. Nur so kann Eigenes, Größeres, Schöpferisches in uns wachsen.
Wer geht, geht auch in sich. Wer zu sich kommen will, muss gehen. Und nicht Joggen, denn da flieht man eher vor sich und nutzt sich die Gelenke ab, beim Fußball zerbeult man sich die Knie, beim Inline-Skaten kann man sich den Hals brechen, beim Bergsteigen abstürzen. Gibt es eine Fortbewegung, die so fair und freundlich ist wie das Gehen? Man muss weder ausgesprochen muskulös noch gut proportioniert sein. Selbst für bauchtragende Männer dürfte der Hinweis beruhigen, dass man kein Sportstyp sein muss, um zu gehen oder zu streunen.
Beim Gehen sind wir alle gleich – ob dick oder dünn, kurz oder lang, mit Hochschulabschluss oder Sonderschule, verheiratet oder Single. Jeder kann und jeder sollte spazieren gehen, so oft wie möglich. Man braucht nicht einmal eine Ausrüstung, wenn man mag, kann man sogar barfuss
gehen. Oder bummeln und mäandrieren, statt dieses ewig angestrengte Gerenne. Daher gibt es auch nicht diesen sauren Schweiß, was das Gehen so liebenswert für Leute macht, die sich nur deodoriert wohl fühlen oder in »die Jahre« kommen.
Mit sechzig stellt man erleichtert fest, der größte Luxus ist: Zeit zum Gehen. Also gönnen wir uns dieses luxuriöse Gehen durch die Zeit. Im Gehen kann niemand richtig berühmt werden, dazu macht diese Bewegungsart zu wenig her. Sie ist kaum Stoff für große Fernsehübertragungen und selbst bei größter Anstrengung braucht man nicht mit Ruhm zu rechnen. Gehen verkörpert genau das, was so vielen Stressgeplagten heutzutage abgeht: Bescheidenheit, Maß, Moral. Man braucht sich bloß die Leute anzuschauen, wie friedlich und entspannt sie beim Gehen aussehen. Fast wie Kinder. Wahrscheinlich hängt es damit zusammen, dass Gehen keine bösen Tricks oder Fouls erlaubt und für Doping ohnehin nicht in Frage kommt. Früher waren es Mohrenköpfe und Brauselimonade, mit denen wir uns unschuldige Früherotik verschafften. Heute fragen wir: »Haste Lust auf einen Spaziergang?« Kann da
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