Lebe deine eigene Melodie
ist es nicht getan. Es geht nicht um das Jungbleiben um jeden Preis, sondern um das gute Altwerden. Wer gelernt hat, Perspektiven zu entwickeln, wird dies auch für sein Alter tun. Und wer schon früh begonnen hat, sich selbst zu begegnen, wird auch im Alter nicht stehenbleiben. Dazu gehört Mut, auch in den Jahren nicht aufzuhören, sich seelischen Entwicklungen zu öffnen, sie zu bejahen und sich ihnen auszusetzen im Sinne von: groß werden statt alt werden.
Statt sich in Besitz nehmen zu lassen von verdrängten, unakzeptablen Wesenzügen wie Sturheit, Starrsinn, Pedanterie, Hilflosigkeit, die leicht zu Alterszügen werden, heißt groß werden: in die eigene Würde gehen. Dieses große Wort mit eigenem Leben zu füllen und selbst zu bestimmen, wie wir als Älterwerdende sein wollen, darum geht es. Nicht alles liegt in
unserer Hand, weil wir Geschöpfe unserer Zeit sind. Aber es liegt an uns, Würdelosigkeit nicht zu akzeptieren, und einander beizustehen, unserer Sehnsucht, statt der Angst vor uns selbst und den anderen, zu folgen. Gegen die Angst hilft nur das tief sitzende Vertrauen, dass wir in diesem Leben nicht allein sind, dass wir einander nicht im Stich lassen und gemeinsam wertschätzen, dass es ein kostbares, weil vorübergehendes Geschenk auf Zeit ist. So kann man sich eigentlich nur täglich wundern, dass die Angst einen nicht auffrisst, dass sie nicht das letzte Wort hat. Was uns größer macht, ist Ehrfurcht. Sie ist die einzige Furcht, die angebracht ist angesichts unserer »Dennoch-Existenz«. Auch wenn die Schatten größer werden, ist sie es, die uns wach hält und staunen lässt.
So wie ich heute beim Schreiben dieses Schlusskapitel gestaunt habe, als ich diesen wunderschönen Bougainville an der Hauswand plötzlich so unerhört leuchtend wahrnahm, als würde er zu mir sagen: »Schau mich an, noch strahle ich für dich.« Eines Tages werde ich ihn nicht mehr sehen, aber sein Leuchten geht mit mir. Genauso wie diese wunderschöne Arie »Remember Me« aus Purcells »Dido und Aeneas«, die als Hoffnung bei mir bleibt. Beides stimmt melancholisch heiter und verändert alle Wahrnehmung, so wie es in diesem bekannten mittelalterlichen Spruch ausgedrückt wird:
Ich bin, weiß nit wer.
Ich komm, weiß nit woher.
Ich geh, weiß nit wohin.
Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.
Menschen sind uns vorausgegangen, und wir werden folgen. Es war ein gutes Leben, wenn wir zum Schluss – statt »Bitte« – »Danke« sagen, wie ein Gast, der seinem Gastgeber an der Tür dankt.
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