Lebe deine eigene Melodie
Themen der Hochkultur – Liebe, Sehnsucht, Tod, Einsamkeit – lebt. Deshalb ist es die Aufgabe unserer Generation, diese Hochkultur
weiterhin zu pflegen und an ihr teilzunehmen. Selbst auf die Gefahr hin, zur braven Mittelschicht zu gehören, aus der die großen Dichter und Denker stammen. Es sollte zu unserem Anliegen werden zu verstehen, aus welcher Welt wir kommen, in welcher Welt wir heute leben und wohin wir gehen. Und um die Orientierung an einem Anspruch oder Maßstab, nach dem wir unser Leben gestalten, denken und ausrichten. Der Journalist Jens Jenssen bringt es auf den Punkt: »Darum ist es richtig, die Bedürfnisse höherer Bildung privilegiert zu erfüllen: weil diese Bedürfnisse in jedem schlummern.«
Unsere Chance liegt darin, sich der eigenen seelischen Kraftreserven bewusst zu werden und zu lernen, sie als Schubkräfte zu nutzen. Gemeint ist die Kraft, die sich als Kreativität und Ethik den Werten widmet, die über unsere materielle Existenz hinausweisen: Schönheit, Güte, Weisheit, Liebe, Freude, Kunst – Werte, die sinnerfülltes Leben stiften, die gegen Schicksalsschläge stärken und in eine andere, bessere Welt tragen. Die Kategorien des Guten, Wahren, Schönen sind keineswegs zu abgegriffen und verbraucht, wie der Psychotherapeuten H. Petzold betont, »um nicht in ihnen und durch sie in der lebendigen Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Menschen vielfältigen Sinn zu finden und zu schaffen.«
Davon sprechen Kunst- und Bauwerke, die uns eindrücklich zeigen, wie geistig-seelische Motivation die entscheidende Triebkraft von der Idee bis zur Ausführung durch Künstler und Handwerker gewesen und geblieben ist. Auch heute gibt es genügend Anzeichen, dass immer mehr Menschen die Tragkraft eigener kulturell-kreativer Aktivitäten entdecken, sich mit hohem Energieaufwand persönlich einsetzen und etwas bewirken wollen. Ich denke nur an die zunehmende Zahl derer, die ein Instrument spielen, die Theater
spielen, die Tanz und Malerei als Selbstausdruck wählen. Auch wenn unsere Kulturenergie einen schweren Stand hat angesichts der zunehmenden Einengung des Horizonts auf materiellen Konsum und Gegenwartsbewältigung, so bleibt doch die Hoffnung, dass die Summe der Einzelnen, die sich der Frage stellen: Was will ich weitergeben?, auf lange Sicht einen Wandel herbeiführen werden. Ohne Zwang und im Gefühl einer späten Freiheit, die einem die Möglichkeit gibt, Ja oder Nein zu sagen.
»Unser Leben ist das, wozu unsere Gedanken es machen« – dieser Satz von Marc Aurel könnte wegweisend sein. Alles, was wir tun, wofür wir uns mit Leib und Seele einsetzen, bekommt den Wert, den wir ihm beimessen. Es ist die von uns empfundene Wertschätzung, die ansteckend wirkt, wenn wir sie weitergeben. Meine Hoffnung gilt den seelischen Kräften der »Ehrfurcht vor dem Leben« (A. Schweizer), die uns inspirieren und bestärken. Diese Ehrfurcht zu teilen, auszukosten, ja sogar Teil dieser Ehrfurcht zu sein, sie zu gestalten, zu beleben und weiterzugeben. Das scheint mir der wahre Luxus des Älterwerdens. Und wenn er nur darin besteht, dass es einen Menschen gibt, der leichter atmen konnte, weil ich gelebt habe. Das ist immerhin etwas.
Der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson hat das am Ende seines Lebens treffend zusammengefasst:
Die Welt ein kleines bisschen besser zurücklassen,
sei es durch ein fröhliches Kind,
ein kleines Stückchen Garten
oder die grandiose Lösung einer großen sozialen Not.
Drei Würden des Älterwerdens
»Baden, weinen, beten«. Dieser tröstliche mittelalterliche Ratschlag von Bernhard von Clairvaux spricht mich an, weil er so herrlich pragmatisch ist. Zumindest gefällt er mir besser, als jene »Muss-jeder-selbst-wissen«-Privatideologien. Warum sollten wir nicht beherzt nach dem Schatz an menschlichen Würden greifen, auch wenn er von gestern ist? Die Wissenschaft hat uns nicht beigebracht, grundlegende Fragen zu beantworten: Was nährt meine Seele, wenn ich älter werde? Wie bringe ich jenen Platz zum Singen, der mich trägt? Was heißt es, mit ganzem Herzen anwesend zu sein? Das beschränkte linkshirnige Denken, das in unserer Kultur üblich ist, hält Dinge für wichtig, wenn sie für die Analyse zerlegbar sind. Die meisten Vorschläge zum Älterwerden befassen sich deshalb mit dem Körper, als wäre er ein Objekt. Wir füllen ihn mit Nahrungsergänzungsmitteln, Genussmitteln und Angst. Wenn wir krank werden, glauben wir, Krankheitskeime seien von außen
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