Lebe deine eigene Melodie
Lebens, und spüren eine ganz neue Kraft und Freiheit in sich. »Endlich darf ich mir gehören«, sagt eine Ingenieurin, die sich nun selbstständig macht und beratend tätig sein wird, um mehr Zeit für ihre kreativen Potenziale zu finden. Wie viele andere bestätigt sie, dass zwar die körperlichen Kräfte nachlassen, dafür aber im Innern neue Kräfte heranwachsen, die für größere Klarheit, Konzentration und Kreativität sorgen.
Abgesehen von den oft grotesken Maskeraden zwanghaften Jungbleibenwollens und der Angst vor Demenz oder Senilität, ist das junge Alter der privilegierte Ort, sein Leben neu zu ordnen und zu gewichten. Allerdings bedarf es bewusster Entscheidungen, denn die neuen Weichenstellungen sind keineswegs vorprogrammiert. Wir selbst haben das Steuer nun in der Hand, keiner »richtet es« mehr für uns. Entweder wir werden wiedergeboren oder beginnen zu sterben, prognostizierte die Psychotherapeutin Katrin Wiederkehr.
Wiedergeboren werden oder sterben ist in der Tat die Entscheidung, die diesen Lebensabschnitt bestimmt. Wir begreifen allmählich, dass unsere Tage gezählt sind und deshalb jeder Tag zählt. Wir werden unruhiger, wo »tote« Zeit ist und beziehen den Satz »alle Menschen müssen sterben« vielleicht erstmalig auf uns persönlich. Wir ertappen uns, wie wir die Todesanzeigen nun aufmerksamer studieren. Und wenn unsere Katze, der Goldhamster oder ein Verwandter sterben, dann dämmert es uns unausweichlich, dass dies irgendwann auch das eigene Schicksal sein wird. Wir realisieren Endlichkeit als eine Tatsache des Lebens. Vor diesem dunklen Hintergrund erstrahlt plötzlich die Kostbarkeit der Lebenszeit. Der Schritt ist zwar nicht mehr so federnd, aber er sucht sich seine eigenen Wege von der verschwenderischen Weite in die Tiefe, von der Zerstreuung in die Sammlung. Wir fahren langsamer, aber dafür sehen wir viel mehr. Wir beginnen hinzuschauen, zu fragen und zu verstehen. Wie bin ich eigentlich zu mir selbst gekommen? Wieso kam alles so, wie es kam? Warum habe ich gerade diesen Weg eingeschlagen? Ist es das, was ich wirklich gewollt habe? Hier bin ich gelandet, was bleibt mir noch? Die Zeit des Rückblickens, der bewussten Hinnahme, des »Werde, der du bist« ist nun unabweisbar.
Eine neue Dimension von Eigensinn und Freiheit tut sich auf. Wir lassen uns nicht mehr dreinreden und tun das, was wir für richtig halten. Unser eigenes Maß bestimmt unseren Rhythmus. Der Anpassungsdruck nach außen wird geringer, weil wir nicht mehr alles im Griff haben müssen, und weil wir dem Leben trotz Enttäuschungen und Verletzungen mit gelassener Zuversicht trauen, ohne es beherrschen zu müssen. Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich bringt es auf den Punkt: »Das Angenehme am Altern ist, dass man weiß, wer man ist.«
Wo ein Weg endet, beginnt eine andere Reise. Eine Reise, die nicht in der alten Kraft nach vorn drängt, sondern in die Tiefe der Selbstbegegnung. Älterwerden befreit von der naiven Empfänglichkeit für Ideologien, Meister, Gurus, Gruppen und Dogmen. Wir wollen uns selbst ein Urteil bilden, weil wir unseren eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu trauen gelernt haben, die uns die unterschiedlichsten Begegnungen, Naturerlebnisse, Kunst und Literatur zuspielen.
Unsere Wünsche ändern ihre Richtung. Sie verlieren an Schärfe und Dringlichkeit und gehen ins Hoffen über, das nach vorn alles offen, voller Möglichkeiten lässt und auf Vertrauen baut. Ein milderes, wärmeres, ruhigeres Klima ist zu wittern. Es sind nicht mehr die spektakulären Ereignisse, die uns in Hochstimmung versetzen. Waren es die großen Herausforderungen, eine neue Liebe oder ein bedeutender Erfolg, die früher zu Euphorien führten, so sind es nun andere, unscheinbare Wunder, die wir vorher vielleicht nicht einmal bemerkt hätten – der sorgsam gedeckte Tisch, ein Baum, ein Stein, eine warme Hand, ein Lächeln, eine Wolkenformation. Sie versetzen uns in Schauer, wie damals in Kindertagen, als mich beim Anblick von Wespennestern wohlige Gänsehaut überfiel.
Die Sinne werden feiner, selektiver, nuancierter. Der Blick wird weicher, empfänglicher. Wir sehen zwar nicht mehr so scharf im Nahbereich, dafür sehen wir auch vieles nicht mehr so eng und gewinnen eine Weitsicht, die uns hilft, die Dinge aus der historischen Perspektive zu sehen. Auch der Verlust an Hörschärfe hat seine praktische Seite, man entwickelt eine Selektivität, die einen feinspüriger macht für das, was man hereinlassen oder
Weitere Kostenlose Bücher