Leben bis zum Anschlag
leichter. Politik, Business … alles herzlos. Mach einfach ’ne fette Karriere.«
»Als Tänzer? Wie soll ich den Rhythmus halten ohne Herzschlag?« Keath sieht nicht nur aus, als hätte ihn die Verzweiflung gepackt, es ist so. Nora ist ihm so nah und er hat keine Kraft mehr, sich zu verstellen, immer aufzupassen, dass keiner was mitkriegt. »Erzähl mir von deinen Albträumen«, sagt er schnell und setzt sich auf die Theke.
Ihre Augen werden dunkel, als sie ihn ansieht. »Konjugiere das Hilfsverb sein«, sagt sie mit drohender Albtraumstimme. »So was in der Art hat mich Nacht für Nacht aus dem Schlaf gebombt, und ich hab noch im Halbschlaf gestammelt: Äh, äh, äh, ich bin, du bist, er/sie/es sind … Horror! Meine Mutter hat nur noch deutsch mit mir gesprochen, und denk bloß nicht, sie hätte es gekonnt. Mit dem Duden haben wir geklärt, wer den Müll runterbringt. Stunden hat das gedauert.«
Die Bürotür klappert und Maika kommt dahergeschlendert. Das ist das Pausensignal. Die Putzschicht ist zu Ende. Wäre noch was zu tun, würde sie sich nicht blicken lassen. Bevor sie einen Kommentar zu Keaths Anwesenheit abgeben kann, rutscht er von der Theke und grinst bedauernd. Nora räumt das Putzzeug weg.
»Oh, schon fertig! Schade«, sagt Maika.
Mehmets Lauscher sind auf die Bar ausgerichtet. Ihm entgeht nichts. Er springt von der Bühne und will sie zusammenstauchen, aber Dali packt ihn am Arm. Er hält es für keine gute Sache, einen Streit loszubrechen, solange Leif seinen Entwurf nicht abgesegnet hat.
»Wir kriegen ’ne Eisbox.« Maika grinst.
»Toll«, knurrt Dali, »kann ich jetzt endlich zum Chef?«
Jemand schlägt gegen die Stahltür, und Maika scheint Schritt für Schritt sicherer zu sein, dass ein Kerl dahintersteckt. Ihre Beine ziehen sich in die Länge, das Kreuz wird hohl und ihre Stimme honigsüß. »Geh nur, Dali. Er wartet auf dich.«
»Hä? Was …«, Dalis Mund steht ratlos offen und er glotzt nacheinander Mehmet, Nora und Keath an, »… zum Henker soll das heißen?«
Keine Reaktion, bis auf Maikas, den Neuankömmling betreffend. Sie lächelt ihn an. Er ist blond, gut aussehend, luftig verpackt in Markenklamotten mit Vor- und Zunamen. Er lächelt zurück. »Ist Nora da?«
Im Moment erblickt die ihn. »Mist. So spät?« Sie verdreht Mehmets Handgelenk und sieht auf die Uhr. Tatsache. Allerdings hat sie nicht nur die Zeit verschwitzt, sondern den Termin komplett vergessen. Ein Griff nach ihrer Tasche und schon sieht man sie von hinten den frisch geföhnten Kerl zur Tür hinausschieben. Weg sind sie.
Im Club hängen Maikas wilde Spekulationen unbeantwortet in der Luft: ein Date? Wer war das und was haben die vor? Mehmet und Keath sagen nichts dazu, nur Dali kennt ihn aus der Schule und schweigt. Er ahnt, es handelt sich um …
Track #02
02 Elbblick
… Nachhilfe für Michael Schuhmacher. Der ist sogar zum Rollerfahren zu dämlich. Vor der Ampel steigt er voll in die Eisen, ein Hupkonzert setzt hinter ihnen ein. Nora klammert sich am Rücksitz fest, rutscht ab und prallt gegen seinen Rücken. »Ich steig ab, Schuhmacher!«
Mick, wie er sich nennt, tätschelt Noras Bein. »Die hupen bloß, weil dein Kleid hochgerutscht ist.«
»Pfoten weg!« Nora springt ab. »Wir üben da.« Sie deutet auf das Café Schwarz an der Ecke.
»Ich hab mein Physikbuch nicht mit.«
»Aber ich. Komm schon, geht alles von deiner Zeit ab.«
»Im Café kann ich mich nicht konzentrieren.« Mick bleibt stur auf seinem Roller sitzen.
»Wenn du noch mal Schlangenlinien fährst, bin ich weg.«
Er wiederholt die Parallelklasse, und wenn er die Physikarbeit vermasselt, ist Schuhmacher in Schwierigkeiten. Wütend setzt sich Nora wieder auf den Roller. Hätte sie bloß NEIN! zu dem Nachhilfejob gesagt. Idiotin! Nora übt sich in Selbstbeschimpfung. Aus den Müllcontainern am Straßenrand stinkt es. Das veranlasst Schuhmacher, den Weg an der grünen Fußgängerampel
vorbei zu nehmen und auf dem Radweg weiterzufahren.
Klein Flottbek ist neun Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Außer dem Eis hat sie noch nichts Vernünftiges in den Magen gekriegt. Nora hat Hunger und sehnt sich jetzt schon nach ihrem Viertel. Da mischen sich Sprachen und Düfte, in den Küchen wird gekocht, und zu den Mahlzeiten gibt es Trost, Liebe und Essen auf dem Tisch. Klein Flottbek beherbergt über den Tag verlassene, bulimische Hausfrauen, deren Gatten nach dem Meeting mit Kooperationspartnerlnnen in der City ihr Geschäftsessen
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