Leben (German Edition)
von einem Lieferwagen überfahren, sie war sofort tot.
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Und ich träume, ich bekäme die Rechnung. Hätte ich damals, an dem Tag, als mir der Füller auslief, bloß den Vertrag gelesen. Was habe ich da unterschrieben? Muß ich jetzt, hat nicht alles seinen Preis, bezahlen? Der Oberarzt kommt mit einem Blatt Papier ins Zimmer. Zuerst denke ich, es handele sich bei diesem Blatt, etwas kleiner als DIN A4, um eine Urkunde, eine Art Sieger- oder Ehrenurkunde, wie Schüler sie für die erfolgreiche Teilnahme an den Bundesjugendspielen erhalten. Eine Urkunde, auf der, unbeholfen formuliert, «Geschafft, Sie haben überlebt!» geschrieben steht. Der Oberarzt aber gratuliert mir nicht, er sagt bloß: Bitte, die Rechnung, und reicht mir das Papier. Ich werfe einen Blick darauf und sehe eine ungeheure Zahl, eine unaussprechliche Summe, eine Entenhausenzahl, die ich, weiß ich sofort, nie im Leben werde aufbringen können. Was ich ihm auch gleich sage. Macht nichts, entgegnet er, Sie können auch mit Ihrem Blut bezahlen. Mit meinem Blut? Ist mein Blut denn so viel wert?, frage ich einigermaßen überrascht, worauf der Oberarzt antwortet, ich höre seine Sohlen, es sind wohl Ledersohlen, knarzen: Das meine ich natürlich symbolisch. Was ich nicht verstehe. Wie denkt er sich das? Ist in einem Traum nicht alles symbolisch? Ich kann ihn nicht mehr fragen, er ist schon weg, die Rechnung liegt auf dem Nachttisch.
Meine gesetzliche Krankenkasse bezahlt die Rechnung, ich bin sehr erleichtert, als mir das nach dem Aufwachen einfällt. Die Krankenkasse bekommt nicht nur eine Rechnung vom Krankenhaus, sie bekommt auch eine von Eurotransplant, für die Bereitstellung des Organs und die damit verbundenen Kosten. Und bisher hat noch kein Krankenkassenmitarbeiter bei mir angerufen und gefragt, ob ich nicht ein wenig schneller sterben könnte, das wäre dann nämlich günstiger. Bisher hat sich auch niemand erkundigt, ob dieser Aufwand sich überhaupt noch lohnt. Ob ich ihnen, der sogenannten Solidargemeinschaft, so viel wert sein soll.
Später lese ich in der Zeitung über Thomas Starzls deutschen Lieblingsschüler, den Star-Operateur, Chefarzt in Essen, genannt «Das Lebergenie», der vor Operationen wohl um Barspenden gebeten hat, fünftausend, manchmal auch zehntausend Euro, ein hübsches Bündel Scheinchen für die Kitteltasche. Nur um sicherzustellen, daß er selbst operiere. Und nicht irgendeine Hilfskraft. Er sitzt jetzt im Gefängnis.
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Wie lautete die Bedingung der Fee? Ich hatte sie am Telefon ja nicht verstanden. Ruf doch noch mal an, ruf doch bitte noch mal an.
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Die Tage vergehen. Schwestern, Pfleger, Ärzte, Besucher kommen ins Zimmer, ich werde irgendwohin und wieder zurück geschoben. Einmal schiebt mich ein Mann mit rötlichem Kinnbart und wenig Haaren, auch er pflegt die rituelle Kommunikation: Wie jeht’s uns heute, na, denn ma’ los, die Ecke jetze. Er erzählt mir von der Funküberwachung der Transporter, sechsundzwanzig Transporter gibt es im Frühdienst, nachmittags weniger, alle sind sie mit einem Klinikmobiltelefon ausgestattet und müssen Signale geben: Bin auf Station, Patient empfangen, oder: Bin am Zielort und wieder verfügbar. Der Oberaufseher sitzt angeblich vor einem Bildschirm und kann die Bewegungen seiner Transporter überwachen, es soll aber Funklöcher auf dem Klinikgelände geben, in denen es sich ein wenig verschnaufen läßt. Auf fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer komme er pro Tag, sagt der Krankenhausahasver, ick hab abends keen Bedürfnis, spaziern zu jehn. Schuhe halten fünf Monate, manchmal ein halbes Jahr.
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Wie gut ich versorgt werde, wie nett das Krankenhaus zu mir ist. Ich habe ein Bett und bekomme zu essen, dreimal am Tag. Anderswo gibt es keine Krankenhäuser, und Menschen sterben einfach so. Ich aber liege hier wochen-, monate-, jahrelang im Bett und beschäftige all die Ärzte, Schwestern, Pfleger, Physiotherapeutinnen, Transporter und Reinigungskräfte.
Und was muß ich tun, damit ich das verdiene?
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Ich schaue zur Wand und zum Schrank, hinauf zum stummen Fernseher und auf die beiden Bilder, die ich immer übersehe. Ich schaue zum Nachttisch neben dem Bett und zum Armaturenbrett mit den Knöpfen, von denen nur ein einziger funktioniert – der, mit dem ich das Licht ein- und ausschalten kann. Vom Meer keine Spur, ich liege nicht am Pazifik, sehe statt dessen Wipfel vor dem Fenster, warte nur, balde, draußen spielt das Jahreszeitentheater, gibt eine
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