Leben (German Edition)
noch der Winter. Und prompt – ich muß aufpassen, was ich mir wünsche – beginnt es draußen zu schneien. Dichtes Treiben, fette Flocken, Schnee, der froh macht, einfach so. Immer wieder versuche ich, den Flug einer Flocke zu verfolgen, du könntest ja diese Flocke sein. Es gelingt mir allerdings nie lange, sie sehen sich alle doch sehr ähnlich. Dabei sind, das habe ich einmal gelesen, im Lauf der Erdgeschichte noch nie zwei exakt gleiche Schneeflocken vom Himmel gefallen, die Möglichkeiten der Kristallisation sind unvorstellbar groß.
Ach, es hört schon wieder auf. Und nichts bleibt liegen.
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Ich liege unter einer frischen Decke, Kaffee steht auf dem Nachtschrank – Krankenhausidylle, Klinikarkadien. Und da hinein werde ich ermahnt, weil ich wieder ein Schlachtfeld auf dem Frühstückstablett hinterlasse habe. Als wäre ich das Kind, dem ich ein Brot schmiere, habe ich die Rinde an den Rändern der Scheiben abgeschnitten und aufgetürmt und wie fast jeden Morgen die Honig- und Marmeladenreste aus den Portionspäckchen gelöffelt. Vielleicht bin ich die Wespe.
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Auf dem Flur begegne ich wieder der ungetümen Frau, der Riesin. Wir sind uns schon öfter über den Weg gelaufen, und wie immer fängt sie gleich an zu erzählen: daß sie sich mit ihrer dritten Leber fühle, als hätte sie sich einen anderen Menschen einverleibt. Sie hat schon einmal davon gesprochen, im Aufenthaltsraum, eines Nachts, als sie und ich nicht schlafen konnten. Sie sagt, sie habe einen anderen Menschen gegessen, ja sie sei auf der Intensivstation mit Menschenfleisch gefüttert worden, und der Mann, den sie sich einverleibt habe, sei ein sehr schöner, starker Mann. Allerdings auch ein Mörder, der auf der Flucht vor der Polizei unter ein Auto gekommen sei, daher die Kopfverletzung, sein Hirntod und so weiter.
Leider kann ich mich mit ihr nicht über ihre Kannibalismusphantasie unterhalten, sie will nur selber reden. Mir gefällt ihre Idee, schließlich gibt es Naturvölker, die glauben, sich die Tapferkeit besiegter Feinde in einem kannibalistischen Ritual aneignen zu können, was nicht heißen muß, daß die getöteten Kämpfer mit Haut und Haaren aufgegessen werden. Meist reicht es, von Herz und Leber bloß zu kosten.
Habe ich nicht, denke ich nun, auch deine Tapferkeit hinzugewonnen, diese fast vergessene Tugend? Halte ich das alles nur deshalb aus?
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Von der Schwester, die bald wieder auf dem Bauernhof ihrer Eltern arbeiten möchte, höre ich, daß eine Patientin in ihrer Überlebenseuphorie glaubte, sie habe den Jackpot geknackt, sechs Richtige und die Zusatzzahl. Sie rief all ihre Freunde an und sagte: Ich habe Millionen gewonnen, kauft euch, was ihr wollt, ich zahle alles. Dem Oberarzt versprach sie zwanzig Millionen für eine Erweiterung der Klinik.
Und eigentlich stimmte es ja, sie hatte gewonnen. Sie war noch am Leben, ihr gehörte die Welt.
Die Euphorie des Überlebens, das habe ich schon bemerkt, hält leider nicht an. Die schrecklichen, endlosen, leeren, verzweifelten Tage, sie kommen wieder. Dabei habe ich nun ein neues Leben, alles auf Null, noch einmal von vorn. Müßte ich nicht von morgens bis abends jubeln? Jeden Tag? Ununterbrochen?
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Wieder einmal sehe ich einen Mann im Blaumann unten durch die Stille radeln, er radelt in sanfter Schlangenlinie über den Asphalt, als hätte er Frieden mit der Welt geschlossen. Er hat es wohl nicht eilig.
Als ich mich aus dem offenen Fenster beuge, um ihm hinterherzusehen, merke ich, daß ich hier gar nicht gut aus dem Fenster springen könnte. Ein Stockwerk tiefer ragt ein kiesbedeckter Vorsprung aus der Fassade, ein Flachdach, das in leichter Schräge ausläuft. Hinausbeugen kann ich mich nur, weil ich mir von der Schwester, mit der ich mich zur Zeit am besten verstehe, den Schlüssel erbettelt habe, mit dem sich der Fensterflügel ganz öffnen läßt. Springe ich jetzt aus diesem Fenster, bekommt sie großen Ärger.
Manchmal mache ich es mir leicht und denke in solchen Momenten an das Kind, das sich so unglaublich freuen kann. Es hilft, die Freude strahlt zurück. Das ist der Kindertrick, der meistens funktioniert.
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Noch immer am Fenster, zähle ich die parkenden Autos. Die acht oder neun Stellplätze sind reserviert, Nummernschilder zeigen an, wer seinen Wagen wo abstellen darf. Ein VW Käfer sticht heraus, er paßt nicht zwischen die viel größeren Audis und BMWs. Käfer sind überhaupt nur noch selten zu sehen, denke ich. Schon lange ist es nicht
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