Leben (German Edition)
Straßenrand, an dem alle vorübergehen, eines Grashalms, den nie einer sieht, bis er eines Tages abgemäht oder ausgerupft wird. Oder einfach vertrocknet.
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Ich habe Zeit, viel zuviel Zeit, den Krankenhausboden zu betrachten. Mir kommt es vor, als gäbe es in seinem Muster jetzt ganz andere Dinge zu sehen, dabei ist es immer derselbe rauchblaue Farbteich aus Linoleum, jeden Tag. Und mein Bett ist das Floß, das auf diesem Teich treibt, das Wasser spiegelglatt und klar.
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Die Reinigungskraft im pistazientürkisen Kittel, dunkles Haar, leert den Mülleimer, den ich mit ungelesenen Zeitungen gefüllt habe, und legt einen neuen Müllbeutel ein. Sie wischt über den Tisch, den Lampenschirm, der dadurch eine Weile hin und her schaukelt, zuletzt über den Nachttisch. Vorher hebt sie hoch, was da steht, und wenn ich zu viele Bücher (die ich doch nicht lese) und Zeitungen auf dem Klapptablett liegen habe, beschwert sie sich, daß sie nicht wischen könne. Ich entschuldige mich. Leere Wasserflaschen, das liegt außerhalb ihres Aufgabenbereichs, nimmt sie nicht mit. Manchmal macht das die Schwester am Abend, bei ihrem letzten oder vorletzten Gang durch die Zimmer, bevor die Nachtschwester übernimmt. Nicht ohne die Bemerkung, daß, wer sich volle Flaschen hole, die leeren sicher auch zurücktragen könne. Ich liebe diese Erziehungsversuche. Ich bin wieder acht Jahre alt, gleich rufe ich nach meiner Mami.
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Und wieder ein Neuer neben mir, ein libanesischer Fleischer, der sich vier Finger seiner rechten Hand abgeschnitten hat. Nicht ganz abgeschnitten, aber fast. Seine Messer seien scharf, erzählt er, bis auf den Knochen habe er alle Sehnen durchtrennt, die ungeschützte Hand sei ihm über die Klinge gerutscht. Wie das passieren konnte, verstehe ich nicht richtig, möchte es vielleicht auch nicht verstehen. Meine Hand tut weh, während ich ihn erzählen höre, das kenne ich schon, sympathisch vermittelter Schmerz.
Er führt einen eigenen Betrieb, seit ein paar Jahren. Zwei seiner Mitarbeiter kommen zu Besuch und bringen ihm Fleisch, Fladenbrot und Gemüse, sie bringen reichlich, Krankenhauskost will er nicht essen. Er bietet mir von allem an, und ich probiere. Bald erzählt er mir von dem Asylbewerberheim in Rüsselsheim, in dem er 1990 lebte, erzählt, daß er aus einer Dynastie von Fleischern stamme und zwölf Jahre in einer Fleischfabrik gearbeitet habe, bevor er seine eigene Fleischerei eröffnen konnte, in Schöneberg, Hauptstraße, nicht weit hinter dem Odeon.
Zwei seiner drei Brüder sind gefallen. Nein, er sagt, sie sind getötet worden. Sein älterer Bruder wurde von den Israelis erschossen, 1982, während des ersten israelischen Libanon-Feldzugs, der andere, sein jüngster Bruder, starb bei einer Bombenexplosion während des Bürgerkriegs, mein Bettnachbar gibt den Kämpfern der christlichen Milizen die Schuld.
Einmal stehen seine fünf Kinder im Zimmer, vier Töchter und ein Sohn. Die hübscheste der Töchter, elf oder zwölf Jahre alt, schmal, dunkles Haar, ich denke noch, sie ist ein wenig blaß, sackt plötzlich in sich zusammen, erst langsam, zeitlupenhaft, dann schnell. Sie fällt in Ohnmacht, wie ich es bisher nur im Kino gesehen habe. Sie mag keine Krankenhäuser, heißt es dann, wollte auch gar nicht mit, aber was blieb ihr anderes übrig, sie mußte.
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Meine Tanten sagten immer, der sei in Griechenland gefallen, ein anderer in Afrika und noch ein anderer in Rußland. Und ich, als ich sie das sagen hörte, als Kind, dachte immer, sie wären in tiefe Schluchten gefallen, ganz weit hinunter, ich sah sie fallen in ihren Uniformen, die sie auf den silbergerahmten Fotografien über den Frisierkommoden trugen, die Brüder, die Väter und die Söhne.
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Morgens kommt der Pfleger und fragt, was ich trinken möchte. Was ich trinken möchte? Ich sage: Kaffee. Ich sage immer Kaffee, Wasser steht ja auf dem Nachttisch. Abends trinke ich Tee.
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Ich muß nur liegen. Ich muß nur liegen und ab und zu behaupten, ich hätte meine Temperatur gemessen. Jeden Morgen erfinde ich eine Zahl, ich bin längst viel zu faul, mir das Fieberthermometer tatsächlich in die Achselhöhle zu klemmen. Und ich denke, eigentlich bin ich gern hier. Das Krankenhaus befreit von vielen Dingen, die sonst so ungeheuer wichtig scheinen.
Vielleicht bin ich schon zu lange hier.
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Zwei oder drei Stunden starre ich die glasgraue Wasserflasche auf dem Nachttisch an. Ich mag ihre Silhouette, ich mag die Banderole aus Papier.
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