Leben (German Edition)
Kopf gestreichelt und etwas ins Ohr geflüstert, daraufhin habe er zwei Handtücher genommen, sie ihr über Gesicht und Brust gelegt und, noch bevor jemand habe reagieren können, eine Pistole gezogen und zweimal geschossen. Er habe noch zwei weitere Schüsse abgegeben, weil er bemerkt habe, daß seine Frau, zweiundachtzig Jahre alt und seit zwölf Jahren Alzheimer-Patientin, noch atmete. Dann habe er sich auf einen Stuhl gesetzt, sein Mobiltelefon aus der Tasche geholt und die Polizei gerufen, ehemalige Kollegen. Ich konnte es nicht ertragen, sie so sehr leiden zu sehen, nun ruht sie in Frieden, soll er gesagt haben, als er abgeführt wurde. Die Reisetasche hatte er fürs Gefängnis gepackt.
Kommt vielleicht einer, frage ich mich, der Erbarmen hat und mich erschießt?
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Das Kind ist der Grund, warum ich überhaupt noch hier liege, ein anderer fällt mir nicht ein. Ich weiß ja, es ist nicht so schön, wenn Mama oder Papa plötzlich nicht mehr da sind.
Die Tochter war einmal hier, mit ihrer Mutter. Es hat ihr nicht gefallen, sie wollte gleich wieder fort. Das war nicht ihr Vater, den sie da liegen sah, sondern ein mit Schläuchen an Apparaten hängender Fremder, ein seltsamer Patient.
Ich weiß noch, daß auch ich mich, obwohl ich viel älter war, nicht sehr für meine Mutter im Krankenhaus interessiert habe. Ich wollte nichts mit dem Krankenhaus zu tun haben, ja ich habe die Besuche im Krankenhaus gehaßt. Die gesunden, Tennis spielenden und Cabriolet fahrenden Mütter meiner Klassenkameraden gefielen mir viel besser als die sterbende Frau auf dem Schafsfell.
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Eine Wespe fliegt immer wieder ans Fenster, klopft von innen an die Scheibe, sie klopft mit ihrem ganzen Körper, will hinaus und kommt nicht weiter. Die Wand aus Glas versteht sie nicht. Bald krabbelt sie nur noch über die Scheibe, langsamer und langsamer, schon kriecht sie, die Gefangene sucht einen Weg in den Himmel. Ich überlege, ob ich mich von ihr stechen lassen oder sie mit einem Schlag der eingerollten Zeitung töten soll. Mit der Zeitung erschlagen, die Methode meines Vaters – er mußte das manchmal tun, weil meine Mutter panische Angst vor Wespen hatte und schrie, wenn sie nur eine sah. Ich könnte den Wirtschaftsteil und das Feuilleton zusammenlegen und zuschlagen, ich müßte mich nicht einmal besonders schnell bewegen oder anstrengen, die Wespe ist matt.
Ich denke an die Tiere, die ich getötet habe, an die Hunde, die Starzl im Labor zum Opfer gefallen sind, und an die Träume, in denen ich hin und wieder glaube, einen Menschen umgebracht zu haben, Schuldträume, in denen mein schlechtes Gewissen über allem schwebt und mir klar wird: Damit mußt du nun leben. Nach dem Aufwachen bin ich immer ganz erleichtert, wenn mir dämmert, daß ich vielleicht doch niemanden umgebracht habe. Wirklich nicht? Habe ich nicht den einen oder anderen Menschen auf dem Gewissen? Dich? Muß ich mich schuldig fühlen, weil ich überlebt habe, du aber nicht?
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Als ich die Zeitung wieder auseinanderrolle, entdecke ich die Todesanzeige für den Herrn, der mir in der Reha am Tisch schräg gegenüber saß. In dem riesigen Speisesaal waren wir beide morgens die einzigen, die Zeitung lasen und einander mit neuen Details ihrer Krankengeschichte verschonten. Wir hielten, darin waren wir uns ohne Worte einig, die Lektüre für interessanter als unsere Transplantationserzählung. Nun lese ich, daß er eine Woche zuvor gestorben ist. Was mich daran erinnert, sonst versuche ich, nicht daran zu denken, daß fast zwanzig Prozent aller Lebertransplantierten das erste Jahr nicht überleben. Immerhin, ich habe schon zwei, bald drei Monate geschafft.
Von B. weiß ich, daß die Überlebensaussichten in Amerika viel besser sind. Was aber bloß daran liegt, daß diejenigen, die schon sehr krank sind und daher keine gute Überlebensprognose haben, dort in den meisten Fällen überhaupt nicht transplantiert werden. Die Kliniken, die ja mit ihren Erfolgsquoten werben, transplantieren lieber leichtere Fälle.
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Und ich habe wieder Glück, das aggressive Wundermittel wirkt, die Viruslast geht zurück. Es hätte viel länger dauern können. Ich schaue aus dem Fenster, die Blätter haben sich verfärbt und fallen von den Bäumen. Wie heißt diese Jahreszeit noch mal? Auf dem Kanal wird ein Kohlenschiff entladen, ich sehe eine S-Bahn in der Ferne, gelb-rot gleitet sie dahin, dahinter Güterzüge, weißer Himmel.
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Fast alle Jahreszeiten habe ich hier gesehen, fehlt nur
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