Leben im Käfig (German Edition)
Besseres als der Rest der Welt. Dabei war ihm vollkommen egal, warum sie sich für besser hielten.
In der Schule hatte es auch solche Vögel gegeben; Mitschüler, die meinten, sie könnten sich etwas auf ihr Aussehen oder auf die Anzahl der flachgelegten Schnallen einbilden. Als Schwuler vom Dienst hatte er neben diesen Typen immer alt ausgesehen, denn Eroberungen vom anderen Geschlecht zählten nicht. Immerhin war er in den Augen einiger Idioten selbst ein halbes Mädchen. Dabei gehörte er wahrlich nicht zu dem Typ Homosexueller, denen man bei jedem Schritt und jedem Wort anhörte und -sah, von welchem Ufer sie waren.
Vielleicht war das das größte Problem auf dem Dorf: Da nur die feminin angehauchten Schwulen auffielen, bildeten sie das Rollenmodell für alle anderen homosexuellen Männer in der Öffentlichkeit. So ein Unsinn. Ihm merkte man mit Sicherheit nicht an, mit wem er ins Bett ging – oder gehen wollte.
Sascha konnte genauso rennen, Fußball spielen, Mopeds frisieren und auf dem Rechner Monster abknallen wie jeder andere Teenager auch. Nur Vorurteile ausmerzen, das konnte er nicht; und gegen den Hochmut anderer Leute anreden auch nicht.
Was immer an Saschas Nase Winterfeld Junior nicht gepasst hatte, war nicht sein Problem. In letzter Zeit waren viele Dinge nicht sein Problem und das war für sein Empfinden eine gute Entwicklung.
* * *
Auf der anderen Seite der Haustür rutschte Andreas langsam zu Boden. Durch den Stoff seiner Jogginghose konnte er die Kälte der Fliesen spüren. Sein Herz jagte. Jeder einzelne Pulsschlag schien hinter seiner Stirn und in seinem Hals ein Echo zu finden und mit Verstärkung zurück in den aufgeregten Magen zu fahren.
Es war ein Wunder, dass er sich nicht vor dem fremden Teenager übergeben hatte. Lächerlich, aber nicht zu ändern.
Er schloss die Augen und atmete tief durch, lehnte den Hinterkopf an die ebene Tür. Sie gab ihm Sicherheit, während sein Kreislauf ihm Wellengang bei Windstärke 8 vorgaukelte.
„Hölle“, murmelte er mit trockenem Mund.
Was für ein Tag. Zu viel Aufregung für seinen Geschmack. Erst die Panikattacke im Pool, dann der an Manie grenzende Bewegungsdrang, der ihn im Fitness-Raum schwitzen ließ. Das Klirren der zerbrechenden Vase hatte er wirklich nicht gehört. Dass er den Besucher überhaupt bemerkte, lag daran, dass er gerade sein Training beendete, als es klingelte.
Im Nachhinein wäre es Andreas lieber gewesen, wenn er es nicht gehört hätte. Es war immer dasselbe, wenn er alleine war. Er machte nicht gerne die Tür auf, zwang sich aber dazu.
Morgens war meistens Ivana im Haus, aber es war schon vorgekommen, dass sie einkaufen war, wenn seine Pakete kamen. Auf seine Neuanschaffungen wollte er nicht verzichten, nur weil er Angst vor dem Postboten hatte. Außerdem hatte es in der Vergangenheit Ärger gegeben, wenn sein Vater feststellte, dass jemand vor verschlossener Tür gestanden hatte, obwohl Andreas daheim war.
Die Angst war allerdings nicht der einzige Grund, warum seine Beine kribbelten, als würde eine Heerschar Feuerameisen darauf spazieren gehen. Es gab nicht viele Begegnungen mit anderen Menschen in Andreas' Leben.
Auf der einen Seite waren da seine Eltern und sein Großvater, der ab und an zu Besuch kam. Bekannte oder Geschäftspartner kamen eher selten vorbei; wie auch, wenn die Hausherren meistens bis spät am Abend in der Firma waren.
Auf der anderen Seite gab es nur Ivana, die ständig wechselnden Gärtner, mit denen er wenig zu tun hatte, und seinen Hauslehrer Dr. Schnieder.
Zu gleichaltrigen Jungen oder Mädchen hatte Andreas in der realen Welt schon lange keinen Kontakt mehr. Schon vor seiner Krankheit war er kein Rudeltier gewesen und die wenigen zarten Freundschaften, die sich in seinen ersten Schuljahren gebildet hatten, hatten die Isolation nicht überdauert.
Kurz gesagt war dieser Sascha der erste junge Mann, den Andreas seit sehr langer Zeit in Fleisch und Blut vor sich gesehen hatte. Der erste Mensch, der versucht hatte, mit ihm zu reden und ein wie auch immer geartetes Interesse signalisiert hatte. Und er hatte sich wie ein Vollidiot aufgeführt; zu überrascht, zu verängstigt und gleichzeitig zu sehr darauf bedacht, seine Panik zu überspielen. Mist.
Auf einmal zuckte frische Kraft durch Andreas' Körper und verdrängte seine Ängste und damit die körperlichen Ausfallerscheinungen. Vielleicht konnte er noch einen Blick auf den Fremden werfen, wenn er sich beeilte.
Mit einer
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