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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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zu sein schien. Wenn sie sich nebeneinander oder aufeinanderlegten, konnten sie sich von Kopf bis Fuß fühlen.
    Während sie miteinander tollten, war es leicht gewesen, seine am Horizont aufziehende Nemesis zu vergessen. Andreas vermutete, dass es Sascha nicht anders ging. Solange sie zusammen waren, rückte alles andere in den Hintergrund. Eltern, Schule, die Frage, wo man hingehörte und was man mit seiner Zukunft anstellen wollte, Zahnarztbesuche. Sogar die Unsicherheiten bezogen auf ihr Miteinander, die Andreas überfielen, sobald er allein war, schmolzen in ihrer Körperwärme und ließen nichts zurück außer Behaglichkeit und einem größeren Gefühl, dem er noch keinen Namen geben wollte.
    Er hätte alles gegeben, wenn Sascha über Nacht geblieben wäre. Doch er hatte nicht gewagt zu fragen. Das Risiko war eh zu groß.
    Dass er regelmäßig von demselben Jungen Besuch bekam, konnte er erklären. Dass Sascha mitten in der Nacht zur Toilette musste und dabei seinem Vater über den Weg lief, eher nicht.
    Jetzt war Andreas allein und verlor den Verstand. Ein eisiges Tau lag um seinen Brustkorb und presste ihm die Luft ab. Der Wahnsinn schlich um ihn herum wie eine Raubkatze auf der Jagd; bereit, jederzeit zuzuschlagen und ihn zu verschlingen. Die Kontrolle über sich selbst, sein Denken und letztendlich seinen Körper glitt ihm durch die Hände, was ihm nur noch mehr Angst machte.
    Er fragte sich, wann der Tag kommen würde, an dem er sich endgültig verlor. Und wie würde dieser Tag aussehen? Würde er den Weg aus dem Fenster nehmen? Irre kichernd zu Boden gehen, versunken im Spiel mit Blumenerde, dem Make-Up seiner Mutter oder einem Haufen Fäden, die er aus seiner Kleidung gerissen hatte?
    Oder würde er ausrasten und den Menschen in seinem Umfeld etwas antun wie die Amokläufer, von denen die Medien mit schönster Regelmäßigkeit berichteten? An welcher Stelle überschritt man die Schwelle zwischen dem eigenen kleinen Irrsinn und dem, der anderen schadete? Würde er diese unsichtbare Grenze eines Tages erreichen? Und wenn ja, würde er es merken?
    Es würgte ihn, als er versuchte, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
    Der Rest seines Verstandes, der in seinem Hinterkopf von den Feuern seiner Ängste zerkocht wurde, wusste, dass er irrational war. Irrational, hysterisch, weltfremd. Es war ein grauenerregendes Gefühl zu wissen, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten, und doch nichts dagegen unternehmen zu können. Eine reelle Angst konnte man bekämpfen und eliminieren. Vor den Gespenstern in seinem Kopf konnte er nicht fortlaufen.
    Und alles nur, weil er in wenigen Stunden zum Zahnarzt musste. Nicht in dieser Sekunde, nicht in wenigen Minuten. Erst morgen. Warum drehte er jetzt schon durch? Seine Umgebung war nicht anders als sonst.
    Normalerweise fühlte er sich hier heimisch und geborgen. Die vertrauten Wände seines Zimmers sollten ihn beruhigen, ihn in Sicherheit wiegen. Seit fast zehn Jahren konnte er sich auf sie verlassen. Alte Freunde, seine besten Freunde. Warum ließen sie ihn jetzt im Stich?
    Mit fahlen Lippen und unruhig flackernden Augen hob er den Kopf und fokussierte den weißen Behälter in seiner Hand. Rund und viel zu leicht. Eine Tablette. Er konnte sie jetzt nehmen oder erst am Morgen. Nein, er musste sie direkt vor der Behandlung nehmen. Er wusste es. Aber er konnte nicht. Andreas presste die Lippen aufeinander und blinzelte eine einzelne Träne weg. Das Denken fiel ihm mit jedem Atemzug schwerer. Es war, als würde seine Seele ersticken. Er durfte die letzte verbliebene Tablette nicht nehmen. Er musste noch damit warten. Nur wartete er schon so lange. Die ganze Nacht. Fast den gesamten Abend. Und er konnte nicht mehr.
    Er dachte an Sascha. Daran, dass er sich ihm gegenüber gerne stark zeigen würde. Als Kämpfernatur, die sich gegen seine Probleme stemmte und den Sieg davon trug. Dafür brauchte er die Hilfe des angstlösenden Medikamentes. Am Morgen, nicht jetzt.
    Nur wenn er keine Ruhe bekam, würde ihm kein Präparat der Welt helfen können. Er hatte den letzten Schlafentzug noch nicht verkraftet.
    Es war legitim, oder?
    Ja, das war es.
    Aber nicht richtig. Er sollte warten.
    Konnte er aber nicht mehr.
    Es war so verlockend.
    Und falsch.
    Er musste. Er hatte doch schon so lange keine Wahl mehr.
    Es gab immer eine Wahl.
    Nein.
    Andreas schloss die Augen, öffnete blind den Behälter und warf sich die verbliebene Tablette in den Mund. Ohne etwas zu trinken, schluckte er

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