Leben im Käfig (German Edition)
versöhnen.
Beschwingt von dem ersten Erfolg des Tages stand Sascha auf und zog sich die Schuhe an. Als er am Spiegel am Kleiderschrank vorbeikam, fiel ihm auf, dass er eine Rasur brauchen konnte, aber die Zeit dafür erschien ihm zu kostbar. Er hatte es eilig, wollte die Schwierigkeiten aus der Welt schaffen und vor allen Dingen für Andreas da sein, der in diesen Stunden mit Sicherheit litt.
Er warf sich gerade die Jacke über die Schulter, als er schnelle Schritte auf der Treppe hörte. Ohne anzuklopfen, stürmte seine Tante in sein Zimmer.
Sie war blass im Gesicht, geradezu erschüttert, und hielt ihm das Telefon hin: „Für dich.“
Sascha wurde kalt. Dass Tanja im Zimmer blieb, ihn aus runden Augen, in denen er nicht lesen konnte, beobachtete, machte ihm Angst. War etwas mit Andreas? Oder mit seinen Eltern? Sie waren doch nicht ... Nur vage erinnerte er sich daran, dass Aiden beim Frühstück versucht hatte, die Suhrkamps zum Bleiben zu überreden. Die Verhältnisse auf den Straßen waren chaotisch, und neue Schneefälle drohten.
Mit kribbelnden Fingern griff er nach dem Telefon, hielt es nur vorsichtig fest, als handele es sich um eine Giftschlange. Als er sich den Hörer ans Ohr presste, hörte er jemanden schluchzen. Katja. Erleichterung, dass es nicht Andreas oder Ivana war. Erleichterung, dass seine Schwester mit ihm sprechen konnte, aber was bedeutete das?
„Kleines?“, fragte er verkrampft. „Was ist los? Ist etwas passiert?“
„Die spinnt doch total“, heulte Katja wie ein verlorener Seehund. „Sie sagt, sie hält es nicht mehr aus. Ich ... Ich weiß gar nicht, wie ich es dir sagen soll.“
„Nun rede doch!“, rief Sascha und schüttelte sich hastig, als seine Tante an ihn herantrat und ihm die Hand auf die Schulter legte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihm Halt geben wollte oder selbst Halt brauchte. Ihre Berührung konnte er nicht ertragen. „Ist unterwegs etwas passiert?“
„Was? Nein. Nein ... alles gut, aber ...“ Das Schluchzen nahm zu, bis Katja kräftig die Nase hochzog und sich sammelte: „Mein ganzes Zimmer steht mit deinen Sachen voll. Was brauchst du davon denn noch? Ich kann hier doch nicht ... ich kann mich kaum umdrehen. Sie will alles weggeben. Aber ich dachte, du drehst durch, wenn sie deine Die drei ??? -Sammlung verschenkt. Da habe ich sie ihr weggenommen und dafür hat sie mir eine geklebt. Und jetzt schreien Mama und Papa sich unten an. Weil er zwar auch denkt, dass du nicht wiederkommst, aber dass man dich hätte fragen müssen - und weil sie mir eine gelangt hat.“
Erschüttert ließ Sascha sich gegen den Schrank sinken, verstand nur die Hälfte von dem, was seine Schwester ihm sagen wollte: „Wieso meine Sachen weggeben? Was macht Mama denn da?“
Katja hickste, bevor sie schluchzte: „Mama hat während der ganzen Rückfahrt geschimpft und ... und gesagt, dass sie die Nase voll hat. Und dass du nicht mehr nach Hause kommen würdest und dass es keinen Grund mehr gäbe, dein Zimmer zu behalten. Weil wir ja eh ein Büro brauchen. Ist mir neu, aber egal. Und seitdem wir zurück sind, räumt sie alles aus und wirft Sachen weg ... und ich hole die dann wieder aus dem Müll. Sie hat den Verstand verloren. Was soll ich denn nur machen? Ich kann sie doch nicht alles wegwerfen lassen, was dir gehört!“
Unter Saschas Haut bildeten sich Eiskristalle, die sich gemächlich in seine Adern schoben und sein Blut auskühlten. Nach und nach verlor er die Empfindungsfähigkeit in seinen Fingern, in seinen Armen, den Schultern, im Nacken und schließlich im Brustkorb, bis er überall taub war. Dann folgte der Stich. Von schräg unten durch die Nieren in seine Lunge und von dort ins Herz.
Sie brachte es zu Ende. Sie warf ihn raus und mit ihm alles, was er in seinem Zimmer angesammelt und bisher nicht mit nach Hamburg genommen hatte. Nein, er war nicht davon ausgegangen, noch einmal zurückzukehren. Aber es war ein Unterschied, ob man durch die Tür seiner Jugend ins Freie trat oder ob sie hinter einem versperrt wurde.
Sascha glaubte zu spüren, wie seine oberste Hautschicht Stück für Stück von seinem Körper gezogen wurde und nichts als wundes Fleisch zurückließ, das bei jeder mentalen Bewegung, bei jedem Gedanken schmerzte.
Verlassen. Sie hatte ihn verlassen.
„Sascha?“ Katja kreischte geradezu. „Was mache ich denn jetzt?“
Er hörte sie kaum. Er hat zu große Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Es war sein innigster Wunsch, sich fallen zu
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