Leben im Käfig (German Edition)
lassen und zu einer winzigen Kugel zusammenzurollen. Aber das würde nicht helfen. Nichts konnte helfen. Es war vorbei. Sie verstieß ihn und stürzte damit alle ins Unglück. Katja, die er selten so heftig hatte weinen hören, seinen Vater, der ... oh Gott, sein Papa stellte sich gegen sie.
In einem anderen Zusammenhang hätte Sascha sich darüber gefreut, aber jetzt. Seine Kehle war viel zu eng und er wusste, dass es nur einen Menschen gab, der ihm neuen Atem in die Lunge pumpen konnte.
Andreas. Sascha wollte ihn anrufen, ihn bitten, zu ihm zu kommen, bei ihm zu sein. Unmöglich. Er musste zu ihm. Irgendwie.
Sacht wurde ihm das Telefon aus der Hand genommen. Er hörte Tanja leise auf Katja einreden, bat sie, den Streit ihrer Eltern zu unterbrechen und Dieter Suhrkamp ans Telefon zu holen. Sascha war übel. Mit geradezu kindlichem Interesse spürte er den Krämpfen in seinem Magen nach und fragte sich, ob er sich übergeben würde.
Zu viel. Sie verlangten ihm zu viel ab. Ihm und seinen Nerven.
Was hatte er getan, um es zu verdienen, dass seine Mutter ihm den Todesstoß versetzte, wo er doch vorher schon so viele Sorgen hatte? Wo er sich am Morgen mühsam aus dem Bett gequält und entschieden hatte, die Welt auf die Hörner zu nehmen und sein Leben ins Lot zu bringen? Das war nicht fair.
„Ich kann nicht mehr“, hörte er sich selbst murmeln und löste sich taumelnd vom Kleiderschrank. „Ich muss nach drüben ... ich ...“
Er stammelte unsinniges Zeug, Entschuldigungen, Danksagungen. Sein Gehirn schien ohne sein Zutun Daten aus seinem inneren Wörterbuch auszuwerfen, und über seine Lippen zu zwingen. U
nd über diesem Durcheinander an Gefühlen und Worten stand in roten Leuchtbuchstaben der Satz: „Ich muss zu Andreas. Jetzt.“
Ohne an die Folgen zu denken, ohne in der Lage zu sein, auf Tanja Rücksicht zu nehmen, floh er aus seinem Zimmer und rannte wie ferngesteuert nach unten.
Bevor er sich versah, hörte er unter sich die Schneemassen knirschen. Er kam ins Stolpern, fiel in die Knie, wollte liegen bleiben und in der weißen Pracht versinken, bis er nichts mehr fühlte. Aber gleichzeitig schrie alles in ihm nach Andreas. Mühsam kam er wieder auf die Beine.
Wie er vom Garten bis zur Haustür der von Winterfelds kam, wusste er nicht. Er wusste nur, dass die Strecke viel zu lang war und er den Verstand verloren hätte, wenn Ivana ihn nicht augenblicklich eingelassen hätte.
Dem Ziel so nahe, raste er in Andreas' Zimmer, wurde von der dort herrschenden Wärme fast erschlagen und rief ohne Begrüßung, ohne sich genauer umzusehen: „Sie schmeißt mich raus! Sie wirft meine Sachen weg. Was habe ich ihr denn getan? Kannst du mir sagen, was ich ihr getan habe?“
Seine Worte verhallten. Die ersehnte Reaktion blieb aus. Niemand kam ihm entgegen, niemand hielt ihn fest. Andreas lag auf seinem Bett und kommentierte Saschas Ankunft mit ausdrucksloser Miene. Jede Statue besaß lebendigere Züge.
„Andreas“, wisperte Sascha betäubt, als ihm einfiel, dass er gestern auch von Andreas vor die Tür gesetzt worden war. Dass es zwischen ihnen auch Probleme gab. Angesichts der jüngsten Ereignisse war dieses Wissen in den Hintergrund gerutscht. Und er hatte gehofft, er war doch bereit ... er wollte doch ...
Endlose Sekunden sahen sie sich an, bevor Andreas grollend erwiderte: „So ist das also. Wenn ich mit dir Silvester zusammen sein will, hast du keine Zeit für mich. Aber wenn bei dir der Haussegen schief hängt, kommst du angeschissen. Dann bin ich gut genug.“
Dieses Mal krümmte Sascha sich nicht nur innerlich, sondern auch sichtbar für Andreas. Das unsichtbare Schwert, das in seinem Rücken stak, drehte sich unter der Gewalt von Andreas' Worten und brachte das Blut erneut zum Fließen.
Verzweifelt erwiderte Sascha den Blick seines Freundes – Ex-Freundes? - und suchte darin die Zuneigung, die er so dringend brauchte. Aber da war nichts. Nur kalte Gelassenheit, eine Spur Zorn und scharfe Züge, die ihm gänzlich fremd vorkamen.
Waren Andreas' Augenbrauen schon immer schwarz gewesen und präsent in seinem Gesicht, das sie alles andere überschatteten? Was sein weißer Mund schon immer so schmal und verkrampft gewesen? Hatten seine Augen, die meist in ihrem sanften Braun an den Blick eines treuen Hundes erinnerten, schon immer so tief in ihren Höhlen gelegen?
Sascha begann zu zittern. Nicht äußerlich, sondern innerlich. Eine frische Schicht Eis klammerte sich um seine Nervenenden und weckte
Weitere Kostenlose Bücher