Leben im Käfig (German Edition)
ihm nach einem Wochenende mit seinen Eltern? Da musste man ja paranoid werden und in jedem Wink, jedem Blick, jeder Bemerkung das Schlechteste sehen.
Auf einmal war ihm kalt. So kalt, dass er nach oben gehen und sich in sein Bett verkriechen wollte. Die Welt ausschließen. Oder vielleicht in Andreas' Bett? Das wäre fast noch besser, wäre da nicht die Kleinigkeit mit dem Zahnarzt gewesen. Mist.
„Kleiner“, Sascha grummelte beleidigt und Tanja lachte kaum hörbar, „du kommst zu spät. Ich bin nicht mehr böse mit dir. Fahr vorsichtig und melde dich, wenn es ein Problem gibt. Am liebsten würde ich dich begleiten, aber das würde Andreas wohl übel nehmen.“
Erschrocken machte Sascha eine abwehrende Handbewegung: „Er würde mich kreuzigen, wenn ich dich anschleppe!“
„Siehst du, das wollen wir nicht. Also bis heute Abend. Stell den Wagen einfach auf den Parkplatz. Du willst bestimmt hinterher noch drüben bleiben.“
„Und der Schlüssel?“
„Ist der Zweitschlüssel. Und nun los. Umso schneller habt ihr es hinter euch.“
Sascha wandte sich wieder von ihr ab, dieses Mal mit einem ungleich besseren Gefühl bezüglich des häuslichen Friedens. Doch Tanjas klare Worte hatten ihm Angst gemacht. Nein, er wusste nicht, was ihn erwartete. Nicht genau.
Er hatte bis spät in der Nacht im Internet gestöbert und ausführliches Material über Phobien gefunden. Kluge Ratschläge, Erfahrungsberichte der Betroffenen, ärztliche Meinungen und noch einiges mehr. Was er nicht gefunden hatte, war ein Ratgeber für Angehörige und Freunde, die sich mit dem Erkrankten auseinandersetzen mussten.
Nun, dann musste er eben ohne Vorbereitung in die Höhle des Löwen. Andreas hatte es schon einmal ohne ihn geschafft, dann sollte es in Begleitung nicht zu kompliziert werden. Sie würden den Termin schnell hinter sich bringen und anschließend den Rest des geschwänzten Vormittags zusammen genießen. Und morgen, ja morgen, würde er endlich seine Hausaufgaben in Angriff nehmen.
Als Sascha fünf Minuten später die Villa der von Winterfelds betrat, wusste er gleich, dass etwas nicht stimmte. Ivana, die ihm die Tür geöffnet hatte, machte ein betretenes Gesicht und schickte ihn mit einem stummen Nicken nach oben.
Rasch warf er einen Blick auf die Uhr. Verdammt, durch das Gespräch mit Tanja war er später dran als geplant. Er hatte bewusst früher kommen wollen, damit sie noch ein paar Minuten für sich allein hatten, bevor sie aufbrachen. Dafür war es jetzt zu spät.
Im ersten Stockwerk angekommen trommelte er gegen Andreas' Zimmertür und ließ sich herein. Der Anblick, der sich ihm bot, war erbaulich und schockierend zugleich.
„Was wird das denn?“, rutschte es Sascha ohne eine Begrüßung heraus.
Andreas hockte in schwarzen Boxershorts, die sich so eng um seine Haut spannten, das nichts der Fantasie überlassen blieb, auf der Bettkante und hielt das Telefon in der Hand.
Zu gerne hätte Sascha seine Hände auf den geraden Rücken gelegt, die breiten Schultern, die sacht abzeichneten Bauchmuskeln unter der glatten Haut, von der er wusste, dass sie sich unter seiner Zunge ...
Stop. Das gehörte nicht hierher. Nicht jetzt.
Andreas machte ein schuldbewusstes Gesicht, klang aber bockig: „Ich sage den Termin ab.“
„Was?“
Sascha glaubte, sich verhört zu haben. Er hatte die Schule geschwänzt, Tanja ihr Auto abgeschwatzt und sich seit gestern Abend den Kopf zerbrochen, wie er seinem Freund den Besuch beim Zahnarzt so leicht wie möglich machen konnte. Und jetzt wollte Andreas absagen?
„Ich fahre da nicht hin“, wiederholte Andreas stur und zog sich mit einem fiebrigen Glanz in den Augen in Richtung Kopfende des Bettes zurück. „Ist doch auch total unnötig. Ich meine ... es heilt alles gut und so. Ich muss da nicht hin. Wir könnten einfach hier bleiben ...“
Ein verführerischer Unterton mischte sich in seine Stimme, der auf direktem Wege Saschas Verstand angriff und sich daran machte, sein Gehirn ausschalten. Gott ja. Bleiben. Wieder ins Bett gehen. Ein bisschen reden, bis sie noch einmal einschliefen. Zusammen. Eine herrliche Vorstellung, nur leider zu schön, um wahr zu sein.
Abwehrend schüttelte Sascha den Kopf: „Seit wann bist du Zahnarzt? Und hast du nicht gesagt, es wäre noch irgendetwas in der Wunde drin? Das ist doch total bescheuert.“
„Ich kann das Zeug auch selbst rausfummeln.“
„Ich glaube, es hakt.“
Sascha glaubte, sich verhört zu haben. Was war das denn für eine
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