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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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grauen Asphalt sah, das hohe Orientierungsschild neben der Einfahrt einen Schatten in den Wagen warf, setzte sein Herz einen Schlag lang aus. Die Muskeln in seinen Unterarmen spannten sich an, als er nach links greifen und Sascha hilfesuchend die Hand auf den Oberschenkel legen wollte. Seine Zunge wand sich in seinem Mund vor Verlangen, sprechen zu dürfen.
    Zu sagen: „Ich kann das nicht. Bitte lass uns umkehren. Tu mir das nicht an. Zwing mich nicht.“
    Als die Angst Andreas' Wirbelsäule entlang kroch und sich lachend über seinen Verstand hermachte, war er etwas in ihm bereit, noch weiter zu gehen. Sein inneres Kind wollte betteln, umarmt werden, das Gesicht in Saschas Jacke schmiegen und weinen. Jedes Mittel war der Maus recht, der Falle zu entfliehen. Besonders, da der Käse in dieser Falle – ein Zahnarztbesuch – übel stank.
    Aber Maus durfte er nicht sein. Es wurde von ihm erwartet, ein Mann zu sein. Jungs heulen nicht und ein Indianer kennt keinen Schmerz.
    Unter gesenkten Wimpern schielte Andreas zu Sascha hinüber und fragte ihn stumm: Warum hast du das getan? Warum machst du es mir noch schwerer?  
    „Weißt du noch, wo es lang geht?“, fragte Sascha und sprach damit zum ersten Mal, seitdem sie die Villa verlassen hatten.
    Er klang so kühl und energisch, dass es Andreas ins Herz schnitt. Eine weitere Belastung, keine Hilfe. Womit hatte er das verdient?
    Sein erster Versuch zu antworten, schlug fehl, denn seine Stimmbänder verweigerten ihm den Dienst. Erst nachdem er sich geräuspert hatte, antwortete er: „Ja, ich denke schon.“
    „Wir sind spät dran. Wir sollten uns beeilen, damit sie deinen Termin nicht vergeben. Dann müssen wir am Ende noch warten.“
    Oh, Andreas wollte zu spät kommen. Er wollte so spät kommen, dass sie keine Zeit mehr für ihn hatten. Hey, das war die Lösung. Er würde allein hineingehen und Sascha hinterher erzählen, sie wären ausgelastet. Notfall. Arzt krank. Perfekt. Dumm nur, dass Sascha nicht den Eindruck machte, als würde er ihn allein gehen lassen. Skrupel, seinen Freund anzulügen, hatte Andreas in diesem Augenblick nicht.
    Als sie ausstiegen, gellte ein Martinshorn in Andreas' Ohren. Innerlich duckte er sich, äußerlich legte er seine linke Hand auf das Dach des Wagens. Sein Angstschweiß hinterließ feuchte Fingerabdrücke auf dem Lack.
    Sascha beobachtete ihn skeptisch.
    Andreas kratzte ein wenig Kraft zusammen und versteifte die Schultern. Ein übler Geschmack kroch ihm auf die Zunge, während der Parkplatz mit seinen Passanten unter dem Zoom seiner inneren Kamera zur Größe eines Fußballstadions anschwoll. Seine Perspektive verengte sich zu einem Tunnelblick, der den Eingang des Krankenhauses fixierte und rechts und links davon die Flammen der Hölle schuf. Andreas' Beine verloren an Gefühl und damit an Standfestigkeit. Er konnte das hier nicht. Aber er musste.
    Er senkte den Kopf und formte stumm Saschas Namen, wagte nicht, ihn laut auszusprechen. Dann löste er sich vom Wagen. In seiner Welt lief er Schlangenlinien, zeigte mit jedem Schritt seine Schwäche, verhielt sich so auffällig, dass jeder sein Dilemma erkennen musste. Er schämte sich, weil er unter seiner Panik furchtbar enttäuscht war. Seine Krücke war ihm unter den Fingern zersprungen und hatte Glasscherben auf einem ohnehin schweren Weg hinterlassen.
    Sascha hingegen – und jeder andere Mensch, der Andreas ins Auge fasste – sah nichts außer einem jungen Mann, der mit verbissener Miene auf das Krankenhaus zuging. Man sah Andreas weder schwanken noch zittern. Nur wer ihm direkt ins Gesicht schaute, bemerkte die aufgesprungenen Lippen und die kalkweiße Haut. Doch dafür interessierte sich niemand. Im Umfeld einer Klinik waren viele Menschen aus gutem Grunde blass. Andreas fiel da kaum auf.
    Dass es ihm nicht gefiel, von anderen Leuten in seinem Leid beobachtet zu werden, war nicht neu für ihn. Es war bisher etwas gewesen, dass er nicht geliebt, aber in Kauf genommen hatte. Die eigentliche Panik war schlimmer gewesen.
    Doch nun, unter Saschas prüfendem Blick, potenzierten sich Todesangst und das Gefühl, einer Erwartung nicht gerecht zu werden, ins Unendliche. Sein Wunsch, sich zu beweisen, und sein Fluchtinstinkt zerrissen ihn.
    „Bist du in Ordnung?“
    Sascha tauchte dicht neben ihm auf. Seine Stimme klang rau und kratzig, aber vielleicht war auch Andreas' Wahrnehmung nicht in Ordnung. Es sauste in seinen Ohren. Schwindel machte jede Bewegung zu einer Qual. Was, wenn er

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