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Leben im Käfig (German Edition)

Leben im Käfig (German Edition)

Titel: Leben im Käfig (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raik Thorstad
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Ende fand.
    Andreas litt. Und er wünschte sich, er säße in einem Taxi mit einem Fremden, statt Sascha an seiner Seite zu haben. Dieser Termin war ein Himmelfahrtskommando. Keine Schmerzen mehr, die die Angst im Zaum hielten. Die Wirkung der in der Nacht genommenen Tablette war verflogen – Andreas schimpfte sich selbst einen Idioten – und zu allem Überfluss musste er sich beweisen.
    Was hatte er sich versprochen? Dass Sascha verstehen würde, warum er den Termin nicht wahrnehmen konnte? Nicht ohne chemische Hilfe? Oder dass er ihn küsste und seine Hand nahm, damit er sich an etwas festhalten konnte? Davon hatte er früher geträumt, wenn er gezwungen gewesen war, das Haus zu verlassen. Jemanden, der ihm den Rücken stärkte und an seiner Seite war, für ihn nach realen Gefahren Ausschau hielt, während Andreas sich abmühte, die Panik im Zaum zu halten. Als Sascha ihm anbot, ihn zum Zahnarzt zu begleiten, hatte Andreas geglaubt, in ihm eine Stütze gefunden zu haben. Eine falsche Annahme, wie er nun wusste.
    Mann oder Maus. Mehr Druck, mehr Erwartungen, mehr Last auf seinen Schultern.
    Sich beweisen, präsentieren, stark sein, normal sein. Sich erwachsen benehmen, es tragen wie ein Mann. Beeindrucken, die Erwartungen übertreffen, Saschas Wohlwollen erringen. Geliebt werden.
    Mann oder Maus. Beides.
    Tief in seinem Herzen war er ein räudiger, kleiner Nager, der den Körper eines Menschen kontrollieren musste. Zorn und Enttäuschung über Saschas ruppige Art hatten Andreas aus dem Haus getrieben. Doch kaum, dass die Wagentür ins Schloss gefallen war, war die Zündstufe seiner Frustration ausgebrannt.
    Sie waren unterwegs.
    Das Martyrium begann. Nicht nur, dass Andreas am ganzen Leib zitterte, nein, er musste es auch noch verbergen, was ihn ungleich mehr Energie kostete. Sascha sollte ihn nicht schwach sehen. Sollte ihn als Mann anerkennen.
    Und damit war sein Sascha, den er sonst gern um sich hatte, zum Teil des Feinds geworden. Teil einer Welt, in der Andreas nicht bestehen konnte und die mehr von ihm verlangte, als er zu geben hatte. Statt ihm zu helfen, hatte Sascha eine zusätzliche Stange auf das schwindelerregend hohe Hindernis gelegt, das Andreas zu überspringen hatte.
    Er war ein gespaltenes Wesen. Auf der einen Seite war alles, was Andreas ausmachte, damit beschäftigt, sich nicht zu verlieren und die in Wellen durch seinen Körper laufende Panik zu kontrollieren. So zu kontrollieren, dass man ihm nicht ansah, wie schlecht es ihm ging. Auf der anderen Seite sog sein Unterbewusstsein die Eindrücke des herbstlich bunten Hamburg in sich auf.
    Sie fuhren unter einer Autobahnbrücke hindurch - Sascha konzentrierte sich auf den Verkehr oder schwieg aus anderen Gründen – und an Andreas' Augen flimmerten Plakate vorbei. Ankündigungen für Konzerte, Werbung für Musicals, die grell gelben Poster mit den Terminen für die CD- und DVD-Börse.
    Ein Fahrradkurier sprang mit seinem Mountainbike über einen Bordstein und schoss quer über die Straße, sodass ein Kleinwagen bremsen musste und wütend hupte. Zwei Mädchen auf Inline-Skatern rollten unsicher über den Bürgersteig. Eine alte Frau hockte mit einem feinen Lächeln auf einer Bank und wartete auf den Bus, während sie ein paar Tauben zu ihren Füßen fütterte.
    Andreas beobachtete ein Paralleluniversum, das ihm ebenso fremd war wie die ferne Zukunft eines Science-Fiction-Romans.
    Konzerte? Konnte er nicht besuchen. Musicals? Wollte er nicht besuchen, dafür die DVD-Börsen umso mehr.
    Er war ewig nicht mehr mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, konnte nicht Rollschuh oder Schlittschuh laufen. Er konnte nicht einmal wie ein friedlicher Rentner die Herbstsonne genießen und ein paar Luftratten füttern, auf dass sie fett wurden und sich fröhlich vermehrten.
    Vermisste er es, draußen zu sein? Sich frei bewegen zu können? Er war nicht in der Lage, diese Frage aufrichtig zu beantworten. Fast zehn Jahre waren vergangen, seitdem das Kind Andreas sich draußen wohlgefühlt hatte. Ein halbes Leben lang. Er erinnerte sich kaum. Und an was man sich nicht erinnerte, das konnte man nicht vermissen. Höchstens davon träumen.
    Die Ablenkung durch die Einflüsse von außen verschaffte Andreas eine Atempause. Der geschützte Rahmen des Autos gab ihm etwas Sicherheit. Die Karosserie ummantelte ihn und hielt ihn von der Gefahr fern.
    Der schwierige Teil begann, als Sascha auf den Parkplatz des Klinikums einbog. Kaum, dass Andreas die weißen Richtungspfeile auf dem

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