Leben im Käfig (German Edition)
würde auch nicht erlauben, dass man seine Familie in Misskredit brachte und ihnen unterstellte, keine guten Eltern zu sein. Margarete könnte das nicht ertragen.
Vor allen Dingen aber kannte Richard Andreas sehr gut und eines wusste er genau: Sein Sohn war nicht geisteskrank.
* * *
Wieder war es unerträglich heiß. Vor der direkten Sonneneinstrahlung mochten die dichten Vorhänge und hohen Buchreihen der Bibliothek schützen, aber nicht vor der drückenden Schwüle, die sich über dem Fluss bildete. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es gewitterte, obwohl der Himmel hinter den Fenstern noch unschuldig blau war.
Andreas ging es dreckig. Nicht, dass er sich darüber wunderte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal mit jeder Faser seiner Selbst gut gefühlt hatte. Irgendetwas war immer.
Meistens nahm er es mit stoischer Gelassenheit hin, aber an Tagen wie diesen nervte ihn sein verräterischer Körper ungemein. Er hatte guten Willen zeigen wollen, war zum Unterricht erschienen. Glücklich war er darüber nicht. Genau genommen gab es etwas in ihm, das glaubte, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte und im Bett hätte bleiben sollen. Die Anwendungen der Integralrechnung waren auch nicht dazu geschaffen, seine Laune zu verbessern.
Hölle, wie sehr er die Bibliothek verabscheute. Früher einmal war sie ein Hort der Wunder gewesen. Die teuren Bücher hatten ihn fasziniert. Mit dem Finger war er die langen Reihen gebundenen Leders entlang gefahren und hatte sich gefragt, welche großartigen Geschichten sich wohl dahinter verbargen. Die Ruhe und die schweren Ledersessel hatten ihm ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt.
Mittlerweile aber verband er mit der Bibliothek nur noch Niederlagen. Wie das Wohnzimmer und das Arbeitszimmer seines Vaters war sie für ihn zu einem Raum finsterer Erinnerungen und bitteren Versagens geworden. Wann immer er in einem dieser Zimmer in Panik geraten war oder sich einer unangenehmen Situation hatte stellen müssen, war ein Stück von seinem Selbstvertrauen zerschmettert worden.
Wenn sein Vater ihn in sein Arbeitszimmer zitierte oder verlangte, dass er den Abend mit seinen Eltern im Wohnzimmer verbrachte, wurde er jedes Mal schrecklich nervös. Meistens ließ das Desaster nicht lange auf sich warten.
Geblieben waren ihm neben seinem Zimmer nur die Küche und der Fitnessraum im Keller. In der Küche war meistens nur Ivana anzutreffen – seine Mutter kochte nie – und auch der Fitnessraum wurde von seinen Eltern nicht besucht. Sie hatten ihn für Andreas eingerichtet und kümmerten sich nicht weiter darum. Und trotzdem fühlte er sich in beiden Räumen entblößter als in seinem eigenen Zimmer. Er war verrückt, daran konnte es keinen Zweifel geben.
„Würden Sie sich bitte ein wenig konzentrieren?“
Er sah auf. Dr. Schnieder musterte ihn kritisch, wenn auch nicht zwingend unfreundlich.
Obwohl der Lehrer sehr intelligent und bemüht war, mochte Andreas ihn nicht. Als Mann konnte er das dürre, farblose Männchen nicht ernst nehmen und seine wissenden Blicke brannten ihm jedes Mal ein Loch in die Haut.
Es war, als würde der Lehrer ihm hinter die Stirn schauen und seine Stimmungen erahnen. Diese Form von Empathie war nicht ansatzweise so angenehm, wie es sich ein Außenstehender vielleicht vorstellte.
Andreas' Kampf mit sich selbst bestand zu einem großen Teil daraus, sich und anderen das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung war. Oder sich und anderen etwas vorzumachen, wie immer man es nennen wollte. Wurde ihm die Maske, die er tragen wollte, durch die Frage nach seinem Befinden abgerissen, explodierten seine Ängste und brachen unter der Fassade hervor.
„Ich versuch's“, würgte er hervor und wand sich auf seinem Stuhl. Um Konzentration bemüht, starrte er auf sein Mathematikbuch, doch die Zahlen verschwammen vor seinen Augen.
Dr. Schnieder, der Andreas lange genug unterrichtete, um zu wissen, wann er aufgeben musste, verließ seinen Platz auf der anderen Seite des Tisches und ging nachdenklich auf und ab. Schließlich blieb er stehen und sagte ernst: „Ich schaue mir das ja nun schon eine ganze Weile an und ich glaube, so geht es nicht weiter. Wir hängen so weit zurück, dass Sie frühestens in zwei Jahren für eine Abiturprüfung infrage kommen.“
„Ich gebe mir Mühe!“, fauchte Andreas ungehalten, während die Finger seiner rechten Hand sich in seinen Oberschenkel gruben. Das vertraute Zittern glitt in seine Gliedmaßen
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