Leben im Käfig (German Edition)
ihm manches Mal Bauchschmerzen, obwohl Margarete ihm meistens großzügig die Führung in geschäftlichen und privaten Dingen überließ. Ansonsten wäre ihre Ehe wohl schon vor Jahren gescheitert.
„Was gibt es denn, Liebling?“, fragte er betont sanft. „Denk daran, dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Wir müssen gleich los.“
„Das weiß ich selbst. Aber ich möchte mit dir über deinen Sohn sprechen.“
Das war typisch. Wenn etwas schief ging – als ob in dieser Beziehung nicht eh alles schief ging -, war Andreas plötzlich sein Sohn: „Ich höre?“
„Es geht ihm nicht gut. Dr. Schnieder hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass er gestern wieder nicht zum Unterricht gekommen ist. Ich glaube, wir müssen ...“
„Was?“, unterbrach Richard seine Frau aufbrausend. „Schon wieder? Wie stellt der Junge sich das eigentlich vor? Wir tun doch schon alles, um es ihm leicht zu machen. Glaubt er, wir geben uns aus Spaß so viel Mühe, ihm entgegen zu kommen?“
„Sicher nicht. Ich verstehe es doch auch nicht. Ich sehe nur, dass es ihm schlechter geht.“
„Und was genau möchtest du mir damit sagen?“
Margarete verzog den Mund zu einem dünnen Strich, ärgerte sich über seine aggressive Art: „Beruhige dich mal wieder. Ich habe keine Lust, mit dir zu streiten. Ich habe nur überlegt, ob es vielleicht eine gute Idee wäre, doch noch einmal einen anderen Arzt hinzuzuziehen.“
„Nein“, fuhr Richard ihr erneut ins Wort und erhob sich ruckartig. „Du weißt, was dabei herauskommt. Wir kümmern uns um Andreas und bald wird es ihm besser gehen. Das Ganze fing mit der Pubertät an und wird enden, wenn er diese Phase hinter sich hat. Ende der Diskussion.“
Um jeden Versuch einer Fortsetzung des Gesprächs im Keim zu ersticken, verließ er das Esszimmer. Das war nicht nett, aber er hatte keine Zeit und Lust, sich wieder in einer endlosen Diskussion zu verstricken, die immer zum selben Ergebnis führte. Er wusste doch selbst nicht, was mit seinem Sohn los war. Vermutlich hatten sie ihn ein wenig verzogen. Dass er ein Einzelkind geblieben war, hatte sicher auch nicht geholfen. Streit zwischen Geschwistern, Konkurrenzdenken, überhaupt Umgang miteinander, stärkten den Charakter und das Durchsetzungsvermögen.
An beidem mangelte es Andreas. Aber das war kein Grund, sich dem Urteil von Quacksalbern zu überlassen. Sie hatten es in der Vergangenheit durchaus versucht. Richard hatte nach ein paar Jahren aufgehört zu zählen, wie vielen Ärzten sie den Jungen vorgestellt hatten.
Mit gestrafften Schultern marschierte er in den ersten Stock und steuerte auf sein Arbeitszimmer am Ende des engen Flures zu, um seinen Aktenkoffer zu holen. Er wollte nicht vor dem Zimmer seines Sohnes anhalten, doch seine Füße fragten nicht nach seiner Meinung.
Zögernd drehte Richard sich um, schaute die Tür an, als wäre sie sein ärgster Feind. Ein unbehagliches Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus. Am liebsten hätte er dieses unliebsame Thema schlicht vergessen, vergraben unter einem Berg Arbeit.
Stattdessen erwischte er sich dabei, dass er verstohlen nach der Klinke griff und sie probeweise herunterdrückte. Als sie gestern Abend heimkamen, war abgeschlossen gewesen – jetzt nicht mehr.
Vorsichtig warf er einen Blick in den Raum und verzog das Gesicht, als ihm ein strenger Geruch entgegen schlug. Andreas schlief noch. Die dünne Bettdecke war zur Seite gerutscht und entblößte Teile seines unleugbar männlichen Körpers, als wolle eine unbekannte Macht Richard vor Augen führen, wie erwachsen sein Sohn mittlerweile war.
Es fühlte sich an wie ein Schlag auf den Hinterkopf; als würde ein strenger Lehrer sagen: „Sieh genau hin. Deine Theorie zur Pubertät gerät ins Wanken. Er ist jetzt erwachsen und es hat sich trotzdem nichts geändert.“
Allmählich ging ihnen die Zeit aus, aber Richard sah keine Alternative. Ja, die Ärzte hatten ihre Meinung deutlich kundgetan, hatten davon gesprochen, Andreas zu einem Psychotherapeuten zu schicken, ihn mit Psychopharmaka ruhig zu stellen oder sogar in eine Klinik einzuweisen.
Das kam nicht infrage. Kein von Winterfeld brauchte einen esoterisch angehauchten Vollidioten, der Träume deutete und seinem Sohn Unsinn in den Kopf setzte. Man wusste schließlich, wie solche Therapien vonstattengingen und was diese Medikamente mit dem Geist eines Menschen anstellten.
Richard würde nicht zulassen, dass man seinen Sohn in einen weinerlichen Zombie verwandelte. Er
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