Leben im Käfig (German Edition)
bezogen.“
Mehr sagte sie nicht; auch nicht fünf Minuten später, als sie ihn allein ließ. Sie schloss nur sehr leise die Tür hinter sich und lächelte ihm kurz zu.
Andreas wünschte sich von Herzen, alle Menschen wären wie Ivana. Der Duft der frischen Bettwäsche hüllte ihn ein, als er sich ein Buch über keltische Cup-and-Ring-Markierungen schnappte und sich auf die Matratze fallen ließ. Der Anblick der prähistorischen Felskunst, die er nie außerhalb von Fotobänden und Fernsehen zu Gesicht bekommen würde, war bittersüß.
Kapitel 5
Sascha konnte nicht behaupten, dass sein erster Tag in Hamburg so verlaufen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Tanja und die Kinder waren früh am Morgen losgezogen. Die Kleinen gingen zum Ferienspaß-Programm, während seine Tante zur Orchesterprobe musste. Er blieb allein zurück und spürte zum ersten Mal die Last der neuen Umgebung auf seinen Schultern.
Sascha brannte darauf, die Stadt zu erkunden, aber er wollte es nicht alleine tun und kopflos durch die Innenstadt streifen.
In diesem Augenblick begann er seine Freunde daheim ernsthaft zu vermissen, sich zu fragen, was sie gerade machten. Bestimmt trafen sie sich an der Kreuzung im Dorf und fuhren von dort zum Schwimmen an den See. Sie waren zu weit fort und damit auch zumindest für den Moment alle seine Ansprechpartner.
Wie lange würden sie noch Kontakt halten, bevor sich ihre Freundschaften im Sand verliefen? Ein paar Monate, ein Jahr? Und was war mit seiner Familie? Hinterließ er eine Lücke? Kam es ihnen merkwürdig vor, dass er fort war? Oder waren sie erleichtert? Sicher waren sie erleichtert. Ihr Leben würde ohne ihn einfacher werden.
Niemand mehr, der mitten in der Nacht von einem gutmütigen Polizisten eingesammelt und nach Hause gebracht wurde. Niemand, der den Kühlschrank leer fraß. Niemand, der von der Schule suspendiert wurde, weil er zusammen mit den anderen Zielschießen vom Dach gemacht hatte – und zwar nicht mit Wasser. Niemand, der nach einer Party betrunken in den Flur kotzte. Niemand, der zwei Mal aus Unachtsamkeit durch die Fahrprüfung rasselte. Und natürlich niemand, der in einen anderen Mann verkeilt auf dem Sofa lag.
Ja, er hatte es krachen lassen und er bereute es nicht. Nur fiel es Sascha an diesem ersten Tag in Hamburg schwer, sich an die Gründe zu erinnern, warum er sich auf die Großstadt gefreut hatte. Noch fühlte er sich als Gast im Haus seiner Tante und wusste nicht, was er durfte und was nicht.
So landete er letztendlich an seinem Computer und ärgerte sich darüber. Da war er endlich in einer Stadt, die ihm etwas zu bieten hatte, und er verbrachte den Tag in seinem Zimmer.
Andererseits war das vielleicht nicht die schlechteste Wahl, denn nachdem es um die Mittagszeit so heiß geworden war, dass er im Sitzen schwitzte, ging am Nachmittag ein heftiges Sommergewitter nieder. Wie Gewehrfeuer prasselte der Regen an sein Fenster und schuf eine ureigene Gemütlichkeit. Die Stunden galoppierten eilig vorbei, und als er unten einen Schlüssel im Schloss hörte, war er fast überrascht, dass Tanja mit ihren Sprösslingen schon wieder zurückkam.
Danach erging es ihm besser. Fabian und Sina kämpften um die Aufmerksamkeit ihres neuen Bruders und es gab ein weiteres Mal ein gemütliches Abendessen im Familienkreis. Als die Kinder im Bett waren, blieben Tanja und Sascha noch eine Weile auf und zogen sich in das Wohnzimmer zurück. Zur leisen Berieselung lief der Fernseher, aber sie unterhielten sich mehr, als dass sie das Geschehen auf der Mattscheibe beachteten.
„Und? Was hast du heute getrieben?“, wollte Tanja nach einer Weile wissen und streckte die Beine genießerisch unter dem Couchtisch aus.
„Nicht viel eigentlich“, gab ihr Neffe zu. „Oben gewesen, ein paar Sachen am Computer gemacht.“
Sie nickte und zog eine Augenbraue hoch: „Klingt nicht gerade spannend. Sorry, dass ich so wenig Zeit hatte. Aber wie gesagt, am Wochenende gehen wir shoppen und ich zeige dir die Stadt. Oder zumindest ein bisschen davon.“
„Schon gut, ich bin ja schon groß. Ich sterbe nicht, wenn ich ein paar Stunden allein bin.“
„Das ist mir schon klar, aber glaub mal nicht, dass ich nicht weiß, dass diese ganze Geschichte für dich auf gutdeutsch gesagt beschissen ist. Neue Stadt, neue Schule, neue Familie ...“ Augenscheinlich machte sie sich Gedanken, drängelte aber nicht weiter, als Sascha nicht darauf einging und es vorzog zu schweigen.
Ein paar Minuten
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